Der Maler Calmés
Werden und Wirken – Gedanken und Erinnerungen
Einführung
HELMUT GERNSHEIM
Gernsheim Collection London
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Carl B. Hommen
Piscator-Verlag Mühlheim (Ruhr) 1964
(Auszüge)
Der Maler Calmés
Werden und Wirken – Gedanken und Erinnerungen
Einführung
HELMUT GERNSHEIM
Gernsheim Collection London
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Carl B. Hommen
Piscator-Verlag Mühlheim (Ruhr) 1964
HELMUT GERNSHEIM
Gernsheim Collection London
Formen und Farben
Zur Einführung
Mit Peter Calmés wurde ich zum ersten Male anlässlich einer Studienreise durch Deutschland bekannt. Der Name sagte mir damals noch nichts, aber die farbenprächtigen Gouachen seiner Landschaften und Blumenbilder zogen mich sofort in ihren Bann. Eine ähnliche Symphonie strahlender Farben und expressionistischer Formen in großflächigen Landschaften, dominiert von sturmzerzausten Wolkengebilden, kannte ich nur von Nolde.
Der Einfluss Noldes und ein bisweilen leichtes Anklingen an Macke und Chagall sind unverkennbar, wenn wir äußerliche Verwandtschafts-Merkmale aufweisen wollen. So etwas wie einen völlig unabhängigen Genius kennt die Kunst nur ganz selten. Unser ganzes Denken und Schaffen baut auf dem Vorangegangenen auf; aber nur einem Nachahmer, dem die Phantasie zu neuem Schaffen fehlt, wird der Geburtsnachweis unangenehm sein.
Calmés künstlerische Phantasie schöpft aus einer inneren Bewegung und entfaltet eine Persönlichkeit, die seinem ganzen Schaffen ein individuelles Gepräge geben. Die Intensität geladener Energie, die aus seinen Gouachen so elementar hervorbricht, ist beseelt von einer eigenwilligen Gestaltungskraft, die mit Nolde in Wahlverwandtschaft steht und daher oft an seine Vorbilder erinnert.
Die Flachlandschaft übte auf beide eine magische Kraft aus und hat beiden ihre besten Leistungen abgerungen. Calmés niederrheinische Ebene hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit der nordischen Flachlandschaft, der Nolde immer wieder neue Stimmungen abgewann. Sie kommt des Künstlers Streben nach elementarer Vereinfachung der Formen weitgehend entgegen, ist aber meist nur Staffage für einen dramatischen Himmel, den er in stetig neuen Variationen mit atemberaubender Pracht glühender Farben auszustatten weiß.
Calmés gestaltet mit einer verblüffenden Kühnheit der Farbenskala, die auf ein starkes musikalisches Empfinden schließen lässt. Meine Erwartungen wurden vom Künstler bestätigt: „Die Farben bedeuten für mich tönende Instrumente, welche sich auf der Leinwand zum Symbol vereinigen. Daher kann ernste Musik meine Gestaltungskraft in Bewegung setzen; Es entstehen eigenwillige Formen aus der Tiefe meines Innern.“
Seine Vorliebe für ein Gegeneinandersetzen von Primär- und Komplementärfarben vermag Dissonanzen in harmonische Konsonanzen aufzulösen und benötigt selten ein zusätzliches Herausheben der Formen durch Konturlinien. Durch diese Farbenkontraste, auf deren Gesetze und künstlerische Anwendung M. E. Chevreul schon vor hundert Jahren hinwies, entsteht ein erstaunlicher Rhythmus, der — durch keine gegenständlichen Details eingehemmt —den imaginären Bildvorwurf um so monumentaler in Erscheinung treten lässt.
Calmés‘ Bilder sind vorwiegend Aquarelle oder Gouachen auf Japanpapier. Das hauchdünne Japanpapier muss noch in nassem Zustand von der tragenden Glasplatte abgezogen werden. Ob Ursache oder Wirkung — diese technisch bedingte Notwendigkeit unterstützt weitgehend Calmés‘ spontane Malweise. In jüngster Zeit wendet er sich aber auch wieder stärker dem Malen mit Ölfarben zu.
Eine andere erwähnenswerte Besonderheit teilt er mit vielen Künstlern: Seine besten Arbeiten entstehen in den späten Abend- und frühen Morgenstunden. Dabei malt Calmés nie nach der Natur. „Bei Beginn eines Bildes“ — so sagt er selbst — „habe ich keine innerliche Vorstellung, sondern lasse mich von spontan meditativen Impulsen führen. Nach längerem Betrachten der weißen Fläche sehe ich plötzlich auf derselben verschwommen, dann immer deutlicher Gestalten, Landschaften usw., welche auf mich zukommen, greifbar nahe.“
Abgesehen von der Farbenpracht der Gouachen frappiert die spontane Wiedergabe der Stimmung. Die Wolken werden vom Winde gehetzt, der Schatten huscht über die Felder, die untergehende Sonne verzaubert magisch Himmel und Erde auf flüchtige Momente in glühenden Lichteffekten. Bewegung entsteht mit dem kraftvollen Pinselstrich in den Ölgemälden so überzeugend wie im Ineinanderfließen leuchtender Farben in den Gouachen.
*
Im gegenwärtig en Kunstboom, wenn internationale Strömungen die Kunst zu einem Modeartikel zu stempeln drohen und fast jeder junge Künstler glaubt abstrakt malen zu müssen, um zeitgenössisch zu sein — und ausgestellt zu werden — scheinen individuelle Charakteristiken oft etwas verschwommen. Die reine Formenkunst, von Kandinsky, Klee, Modrian und anderen Meistern längst ausgekostet, schwingt auf einer so kleinen Ausdrucksskala, dass man bei der Herde der Mitläufer manchmal das Empfinden nicht los wird, man nehme teil an einem intellektuellen Spiel. Aus diesem Grunde bin ich überzeugt, dass der gegenwärtige Nihilismus in der Kunst in der logischen Weiterführung zur weißen Wand führen muss — die schwarze haben wir schon.
Peter Calmés hat glücklicherweise aus dieser Sackgasse wieder herausgefunden, wenn mir auch sein „Taucher“ und andere Arbeiten aus der abstrakten Periode, die ich vor ein paar Jahren in seiner Wohnung in Duisburg zu sehen bekam, ausnehmend gut gefielen. Sie sind ein Abschnitt seiner künstlerischen Entwicklung und als solche aufschlussreiche Komplemente zu seiner jetzigen Schaffensperiode.
Ob Wolkenlandschaften, Seestücke oder Landschaften mit Menschen, ob Boote, Stierkampf oder Menschen mit Blumen — das Subjekt dient Calmés lediglich für eine neue Zauberei eines flammenden Expressionismus, noch vor einer Generation heiß umstritten und heute schon dem breiten Geschmack gefällig. So schnell ändern sich unsere Ansichten. Vielleicht empfinden wir auch eine gewisse Befriedigung, dass Calmés Farbenkompositionen trotz subjektivstem Expressionismus (und wer nimmt heute reiß aus vor einem roten Pferd?) noch das Subjekt n lassen. Denn haben wir uns nicht satt gesehen an hingespritzten Klecksbildern und langweiligen Wandpinselanstrichen, die nur von der geistigen Leere ihres Autors aussagen? Eine Kunst, die versucht, Selbstzweck zu sein, vernichtet sich oder sinkt zur bloßen Dekoration ab, wie wir es um die Jahrhundertwende erlebt haben, als L‘art pour l’art“ die Parole war. Wir sind jetzt wieder empfänglich geworden für Künstler, die — der Zwiesprache mit sich selbst müde — es der Mühe wert halten, auch zu uns zu sprechen.
Für mich auf jeden Fall ist es eine Freude, einem Maler begegnet zu sein, der genügend Kraft aufwies, sich im populären Strom mitreißen zu lassen.
*
Calmés wurde in Duisburg, der Stadt von Kohle und Eisen, geboren. Seine Vorfahren von väterlicher Seite sind französischer Herkunft. Schon seit seiner Kindheit bestand ein ausgeprägtes Talent zum Zeichnen und Malen. Aber erst nach langen, harten und entbehrungsreichen Jahren war es ihm vergönnt, sich nach einem freien Studium seiner Muse zu widmen. Die Natur war zudem eine gute Schule, und die damals noch verpönten Nach-Impressionisten und Expressionisten hatten ihn längst zu seinem eigenwilligen Weg auserkoren.
Als Calmés seine erste Ausstellung in seiner Heimatstadt hatte, erweckten die leuchtenden Farben seiner Palette sofort reges Interesse. Von 1935 an aber wurden seine Bilder von deutschen Ausstellungen abgelehnt. Nach dem Kriege fing er allen Schwierigkeiten zum Trotz unbeirrt von neuem an. Für kurze Zeit kam er unter den Einfluss abstrakter Kunst, aber mit Hilfe des ihm befreundeten französischen Malers Maurice de Vlaminck fand er den Weg zurück zu gegenständlicher Darstellung.
1949 konnte Calmés als erster deutscher Maler wieder im Ausland ausstellen (Luzern und Zürich). Eine Reihe weiterer Ausstellungen in deutschen und ausländischen Museen und Privatgalerien brachte ihm allmählich vielfältige Anerkennung: Das Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen gewährte dem Maler einen Ehrensold, der jüngst verstorbene Altbundespräsident Heuss besaß eine Gouache von seiner Hand; zahlreiche Privatsammler des In- und Auslandes haben Bilder von Calmés in ihren Sammlungen.
Seine künstlerische Reife und ein leidenschaftlich glühendes Kolorit, die aus den Bildern der letzten Jahre sprechen, mögen auf Anregungen und Erlebnisse seiner Studienreisen in Jugoslawien, Frankreich, Spanien und Italien zurückzuführen sein, vor allem aber auf die immer neue Beschäftigung mit seiner niederrheinischen Heimat; denn die Stadt Duisburg allein vermag wohl kaum auf die Dauer das Empfinden eines sensiblen Menschen zu steigern.
Peter Calmés
Werden und Wirken
Aus meinem Malerleben
Kindheit und erste Malversuche
Als Kind saß ich mit meiner Mutter und den Geschwistern während der langen Winterabende oft am vertrauten Kaminfeuer. Ich könnte noch heute alles so aufmalen, wie es damals — vor sechs Jahrzehnten — war: Gespensterhaftes Licht mit geheimnisvollem Schein, farbige, tanzende Flammen von unbeschreiblicher Schönheit, Farben wie der Mond und der Geist, dazu die Mutter, die uns Geschichten aus ihren Kinderjahren erzählte. Diese Erlebnisse haben als Kind meine Seele befruchtet, meine Phantasie angeregt und den Entschluss in mir wachgerufen, Maler zu werden. Unter Kinderhänden entstanden dann meine ersten Zeichnungen nach dem Leben.
Meine Eltern wohnten in einer kleinen Siedlung, umgeben von einem großen Garten. Hinter dem Haus bildeten mit vielen anderen Gewächsen im Sommer und Herbst riesige Sonnenblumen den Abschluss, deren gold- und braungelbe Farben mich immer wieder zum Malen anregten. Wenn im Frühjahr die ersten Blumen das Licht der Welt erblickten, erwachte in mir die Verehrung und Liebe zu ihren göttlichen Farben. Ich schloss Freundschaft mit ihnen und konnte mich nicht mehr von ihrem Zauber trennen. Schon damals versuchte ich, diese Farben zu bewegten akkordischen Gebilden zu vereinigen. Durch dieses dauernde malerische Üben verstärkte sich meine Energie, so dass ich mit den Farben oft sehr wild jonglierte. Und der Erfolg war zu meinem glücklichen Erstaunen: Ich erreichte eine Steigerung und eine harmonische Verbindung. Manchmal wirkten solche Versuche auf mich wie Trommelschläge, Bässe, Violinen und Hörner — oder auch wie Ballettmusik.
Meine Mutter liebte Blumen über alles. Unsere Wohnung wurde stets durch große, farbige Blumensträuße festlich belebt. Noch heute bin ich fest davon überzeugt, dass diese prachtvollen Blumen meiner Kindheit mir meine große Freude zum Malen schenkten. Diese farbigen Bildbände sprachen mich an wie Frühlingssonaten und erweckten in mir einen reizvollen und starken Gegenpol, die Verwandlungskunst. Die wundervollen Blumen erfüllten alle meine Wünsche, sie waren für mich bescheidene und geduldige, stumme Modelle. Immer wieder regte meine Mutter allein durch den steten Blumenwechsel meine kindliche Phantasie an und rief dadurch neue Bilder in mir wach. Die Mutter war gemischt in ihrem Gefühl von Poesie und freier Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Sie war sangeslustig und melodienfreudig. Bei ihr fand ich mit meinen ersten Versuchen, Bilder zu malen, stets begeisterten Beifall. Sie hatte brillante Einfälle und war zudem medial veranlagt. Bei dem damaligen ersten Tasten meiner Malversuche gab sie mir manchen ermutigenden Rat. Dabei führte sie mir stets vor Augen, dass sich die großen Formen aus vielen, vielen kleinen zusammensetzen und daraus ihr Inhalt wächst. Was immer sie mir auch sagte, bereicherte meine Illustration; denn ihre Erläuterungen waren für mich so überzeugend, dass ich sogar sehr oft Erscheinungsformen erlebte, die sich mir bildhaft einprägten. Unter den mütterlichen Vorfahren befand sich übrigens ein Arzt, der gleichzeitig ein Maler aus Leidenschaft war, mit dessen Wesen sie mich sehr oft verglich.
Großvater Puppenschneider
Mein Großvater von Mutters Seite war ein großer, stattlicher Mann mit einem Kaiser-Franz-Joseph-Bart. Schneider und Bauer war er zugleich; nebenbei versah er noch amtliche Dienste. Er besaß ein nettes Haus mit großem Acker, mit etwas Wald und allem, was sonst noch zur Landwirtschaft gehört. Für die Leute aus seinem Ort und der Umgebung war er einfach der Puppenschneider; die von ihm angefertigten Anzüge hatten alle eine persönliche Note und ihm eben dadurch diesen eigenartigen Namen eingebracht, auf den er schließlich nicht wenig stolz wurde. Aber dieser Name hatte auch noch eine andere Ursache. In seiner Freizeit schuf mein Großvater nämlich mit großer Liebe wundervolle, recht ausdrucksstarke und farbige Marionetten. Bevor er diesen seiner Phantasie entsprungenen Figuren Leben schenkte, fertigte er immer erst eine große Anzahl Zeichnungen an, aus denen nur er klug wurde. Er übermittelte auch niemandem, selbst seiner Frau nicht, seine eigenwilligen Ideen, denen er bei der Anfertigung seiner Marionetten nachhing. Erst wenn die Figuren vollendet waren, zeigte er sie allen gern und fand seine Freude daran, wenn sie mit Bewunderung aufgenommen wurden. Noch eine andere Leidenschaft besaß er: Er malte sehr oft sein Gesicht im Spiegel. Die Mutter erzählte von ihm, er habe einen sicheren Blick besessen und sein Gesicht verblüffend genau auf dem Papier festhalten können.
Stets war er übrigens zu allen Menschen liebenswürdig, wenn auch streng in seinem Charakter. Insgesamt gesehen war er ein Original, ein fröhlicher Mensch mit vollendeten Umgangsformen. Er liebte die Natur und vor allem den Sternenhimmel, zu dem er abends, auf einer Bank vor seinem Haus sitzend, beim Genuss einer guten Zigarre lange Zeit bis zur völligen Dunkelheit hinaufschauen konnte. Dieser abendliche Himmel war für ihn, wie er sagte, von einer „prickelnden“ Atmosphäre. Auch für Dichten und Reimen hatte er eine besondere Schwäche. Leider habe ich ihn selbst nie kennengelernt, obwohl er ein sehr hohes Alter erreichte. Aber aus den Erzählungen meiner Mutter lebt er heute noch bis in die letzte Faser seines Wesens fest in meiner Vorstellung.
Großvater Wünschelrutengänger
Von meinem Großvater väterlicherseits weiß ich aus der nur knappen Erzählung meines Vaters leider nicht so viel zu berichten. Der Großvater war Architekt, dazu ein Wünschelrutengänger und er baute vor allem Mühlen. Er besaß einige Häuser, interessierte sich für Bodenschätze, das ewige Meer und die Vegetation. Er war von mittlerer Figur und sah aus wie ein Musiker, jedoch besaß er — für die damalige Zeit etwas Ungewöhnliches —keinen Bart. Seine äußere Gestalt war sehr eindrucksvoll und markant.
Er war recht ruhelos und liebte das ewige Wandern — genauso wie übrigens auch mein Vater, der diese Eigenschaft sicherlich von ihm geerbt hatte. Dazu war der Großvater ein guter und empfindsamer Kenner bedeutender Kunstwerke, liebte farbige Bilder und war ein interessanter Erzähler voll Optimismus. Sein ausgeprägt künstlerisches Darstellungsvermögen stimmte in den seltensten Fällen aber mit seinen eigenen Zeichenversuchen überein, sie waren und blieben für alle einfach rätselhaft. Sein Schönheitsempfinden besaß neben einer unbeschwerten Daseinsfreude eine tiefe Naivität des Herzens. Soviel ich mich erinnere, war es ihm leider nicht vergönnt, auf dieser Erde fünfzig Jahre zu leben.
Die Mutter meines Vaters aber habe ich als Kind noch kennengelernt. Sie war eine stille und fleißige, hagere Frau. Als ich dieser Großmutter zum erstenmal begegnete, hatte ich noch nicht die Erkenntnis, dass sie mit der von Dürer angefertigten Zeichnung seiner Mutter eine große Ähnlichkeit besaß. Gut kann ich mich noch daran erinnern, dass ich einmal für längere Zeit bei ihr wohnen und die täglichen Einkäufe für sie besorgen durfte. Bei diesen Besorgungen trug ich stets ein Skizzenbuch bei mir. Wenn ich plötzlich ein für mich lohnendes Motiv entdeckte, stellte ich den Korb auf den Boden und fertigte schnell eine farbige Studie an. Das geschah an manchen Einkaufstagen oft mehrere Male, was zur Folge hatte, dass ich stets mit großer Verspätung zurückkam. Immer legte ich dann meiner Großmutter die soeben entstandenen neuen Skizzen vor. Sie betrachtete sie recht lange, fand sie meist sehr schön und sagte oft nach einer Weile: „Du wirst bestimmt mal ein großer Maler.“ Darauf war ich dann sehr stolz, und oft erhielt ich von ihr eine Tafel extrafeiner Schokolade. Das war die Mutter meines Vaters.
Erste Malversuche
Einen entscheidenden Anstoß, mich wirklich ernsthaft mit Malen zu befassen, erhielt ich schon in Kinderjahren durch einen Unfall. Als kleiner Junge liebte ich es nämlich sehr, mit anderen Kindern herumzutollen und das am liebsten an den Samstagvormittagen. So war es auch wieder an einem Samstag, als wir — wie so oft — mit einem großen Ball nach Herzenslust auf unserem Hof spielten. Dabei flog er plötzlich durch meinen sehr temperamentvollen Fußtritt auf die vor dem Haus verlaufende Straße. Mein Ehrgeiz war nun, den Ball als erster zu erwischen. Ich stürzte ihm also sofort nach, übersah dabei aber einen heranrollenden Pferdekarren, so dass mein rechter Fuß — als ich meine beiden Arme ausstreckte, um den Ball einzufangen — unter das rollende große Rad geriet.
Im ersten Augenblick merkte ich noch nichts. Bald setzte jedoch ein nicht wiederzugebender Schmerz ein. Zudem schwoll mein Fuß zusehends mächtig an. Nur mit großer Mühe gelang es mir noch, mich in die elterliche Wohnung zu schleppen. Meine Mutter, die in der Küche hantierte, schrie laut auf, als sie mich jammern hörte und dann vor sich sah, und lief sofort zum Doktor. Doch als dieser eintraf, war der Fuß bereits aufgeplatzt und blutete stark. Ich wurde verbunden, musste den Fuß kühlen und das ganze Bein hochlegen.
Von dieser Stunde an erhielt ich für viele Wochen meinen Platz über Tag auf der Holzbank, die in der Küche neben dem Fenster stand. Ich war sehr niedergeschlagen über den Unfall. Aber bereits nach einigen Tagen, als der Hauptschmerz nachgelassen hatte, kam mir der sehr glückliche Einfall, die Zeit der unfreiwilligen Muße zu nutzen und zu malen, indem ich den Aquarellblock mit einem Brett auf beide Oberschenkel legte. Von nun an entstand in dieser etwas ungemütlichen Lage eine große Anzahl Bilder, die meine Phantasie mir eingab. Damals ahnte ich noch nicht, wie wichtig es war, dass dieses Unglück und diese hölzerne Bank mir zum erstenmal für Wochen die Freiheit schenkten, ungestört nach Herzenslust malen zu können.
So füllte sich in dieser mit Schmerzen verbundenen Zeit eine ganze Mappe mit bunten Bildern — zur Freude meiner Eltern und Geschwister sowie der Spielkameraden, von denen viele stundenlang neben mir hockten und mir sehr oft auch als Modell dienten. Von nun an betrachtete ich diese plötzliche Wendung als eine notwendige Muße, in meiner erwachenden Begeisterungsfähigkeit den so sehr von mir geliebten Farbenkreis zu erweitern und mich im Zeichnen vor allem technisch weiterzubilden. Meine Eltern ließen eine Anzahl dieser von mir gefertigten Gebilde ordentlich rahmen und verschönerten damit die Wände unserer Wohnung. Ich durfte die Bilder sogar öfter wechseln, womit eigentlich meine erste Ausstellung stattfand. Nachbarn und Freunde kamen des öfteren, um die Bilder zu betrachten und zu bestaunen.
Und bald erwachte in mir ein starker Drang, immer wieder Bilder zu malen und damit den Leuten eine Freude zu machen. Ich selbst fühlte mich sehr geehrt und kam mir manchmal schon wie ein richtiger kleiner Maler vor. Mein Vater sagte oft zu mir: „Junge, wo hast du das alles bloß her? Ich bin doch zum Malen so völlig unbegabt!“ Hätte er meine Mutter gefragt — aber das wusste ich damals selbst noch nicht —, sicher würde sie mein Mal-und Zeichentalent als Erbteil ihres Onkels erkannt haben, der — wie auch die Familie meines Vaters — aus dem saarländisch-lothringischen Grenzraum stammte.
Die Farben ließen mich von nun an nicht mehr los. Diese stummen Melodien beschäftigten selbst in der Nacht mein Hirn. Voller Freude dachte ich oft mit Sehnsucht an den kommenden Tag, um wieder mit diesen temperamentvollen Farben zu spielen. Malerei bedeutete für mich schon zu dieser Zeit, als ich erst ein Junge von elf oder zwölf Jahren war, eine ausdrucksvolle Melodie. Ich wollte Bilder malen, die den Menschen tröstendes Licht spenden und in ihnen vibrierende Harmonien erzeugen sollten.
Der erste Erfolg in diesen Jungenjahren war eine kleine Ausstellung von Zeichnungen und Aquarellen in der Schule. Ich war sehr stolz darauf; denn ich bekam von meinem Lehrer eine lobende Anerkennung. Wie es dazu kam? Eines Tages sagte der Klassenlehrer, der zeichnerisch sehr begabt war, zu uns dreißig Jungen und dreißig Mädchen, die ganze Klasse solle einmal einen Schuh so naturgetreu mit Licht und Schatten zeichnen, dass man den Eindruck habe, es sei ein richtiger, sozusagen lebendiger Schuh. Dafür gab er uns acht Tage Zeit. Innerlich war ich begeistert von seiner Idee, und noch am gleichen Tag begann ich, den Schuh meines Vaters zu zeichnen, natürlich mit einem Silberstift.
Nach mehreren kläglich gescheiterten Versuchen glaubte ich endlich, den Eindruck von einem Schuh vor mir zu haben, den man wirklich tragen könnte. Schon als Kind hatte ich den Wunsch, zeichnerisch alles so zu gestalten, dass es auf den Betrachter überzeugend wirkt. Deshalb versuchte ich, Licht und Schatten in meinen gezeichneten Schuh hineinzulegen. Aber ich sollte mich schwer getäuscht haben; denn davon verstand ich noch nichts. Woher sollte ich das auch wissen! Alle Versuche, es dann mit Gewalt zu erreichen, machten es nur noch viel schwieriger —es klappte einfach nicht. Langsam verzweifelte ich. Aber ich wollte mir auch wiederum nicht die Blöße geben, ohne diesen Schuh in die Schule zu kommen. Was sollte ich nun tun, um den Schuh doch in der vom Lehrer gewünschten Form zu zeichnen?
Schließlich war der vorletzte Tag da — morgen sollte die Zeichnung abgeliefert werden! Da kam mir ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Meines Vaters Leidenschaft war das Besohlen unserer Schuhe; ich glaube, er sohlte sie genau so schön wie ein gelernter Schuhmacher. Wie es der Zufall wollte, besohlte er an diesem Tag seine eigenen Schuhe. Auf einmal sah ich, wie er den bereits fertigen Absatz mit einer tiefschwarzen Flüssigkeit überstrich. Ich traute meinen Augen nicht — der Absatz glänzte so, wie ich mir Licht und Schatten auf meinem Schuh vorgestellt hatte.
Da erwachte in mir plötzlich die Idee, meinen gezeichneten Schuh mit dieser geheimnisvollen Flüssigkeit einzustreichen. Als ich dem Vater meine Idee mitteilte, lachte er mich einfach aus und sagte nur: „Du Phantast!“ Ich aber ließ mich von seinem Spott nicht beeinflussen und bat ihn, mir einen kleinen Teil dieser Flüssigkeit zu geben. Schließlich willigte er ein und gab mir die ganze Flasche mit dem Pinsel. So begann ich, den Schuh damit ganz einzustreichen. Ich war überrascht: Der Schuh glänzte jetzt wirklich genauso, wie ich es mir gewünscht hatte.
Er behielt sogar nach dem Auftrocknen einen herrlichen Glanz und Schatten. Ich war zufrieden und sehr glücklich in dieser Stunde.
Am folgenden Tag wagte ich es erst als Letzter, dem Zeichenlehrer meinen so gemalten Schuh vorzulegen. Heute noch sehe ich sein Gesicht beim langen stillen Betrachten dieses Bildes von einem Schuh vor mir. Erst nach einer Pause sagte er: „Seht her, Kinder. Hier hat man das wirkliche Gefühl, der Schuh lebt. Man könnte sogar in ihm spazieren gehen; denn er hat Licht und Schatten, genauso wie ich es mir vorgestellt hatte. Junge“ — so sagte er schließlich zu mir — „Du wirst mal ein großer Künstler. Ich bin ganz stolz, Dich in meiner Klasse zu haben. Du musst unbedingt Maler werden.“
Einige Tage danach prangte mein gemalter Schuh mit einigen anderen Bildern in unserem Klassenraum und wurde allgemein bewundert, sogar vom Direktor. Als Lohn und zur Anerkennung dieser Leistung durfte ich kostenlos an einem sehr schönen Ausflug der Klasse teilnehmen. Später hat mich dann unser Lehrer — ganz im Vertrauen — gefragt: „Sag‘ mal, Peter, wie ist dir das mit dem Schuh bloß gelungen? Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir dein Geheimnis verraten würdest.“ Was ich ihm geantwortet habe, ist meiner Erinnerung entfallen. Eines aber weiß ich bis heute noch ganz genau: Mein Geheimnis habe ich ihm niemals verraten — hier tue ich es zum erstenmal.
Der „Illustrator“
Durch das stetige berufliche Wandern meines sehr reiselustigen Vaters — er war Ingenieur bei einem großen Schachtbau-Unternehmen des Ruhrgebietes — nahmen aber alle meine Pläne und Illusionen, die ich über meine Hinneigung zur Malerei hatte, plötzlich ein jähes Ende. Ich kam einfach nicht mehr zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Schließlich wurde ich für längere Zeit auf eine auswärtige Schule geschickt. Dort packte mich meine Liebe zum Malen und Zeichnen aber sofort wieder. Ich malte, halb versteckt, meine Umgebung. Auch fertigte ich zu dieser Zeit Gipsfiguren nach dem Leben, für die mir meine Schulkameraden ein paar Groschen gaben. Sogar in einem Pferdestall modellierte ich mit Leidenschaft Miniaturen. Ich schuf Uniformen in Phantasiefarben, fertigte hierfür selbst die Entwürfe, wobei mich die damals sehr farbenprächtigen Uniformen anregten. Und als mir zu Weihnachten ein Filmvorführgerät geschenkt wurde, eröffnete ich sogar in einem Keller ein Kino, wobei ich in den Vorstellungen meine Bildstreifen selbst erklärte. Das Hell und Dunkel des Films auf der Leinwand gaben mir neue starke Anregungen zum Malen.
Eines Tages wurde unsere Schule renoviert. Wir bezogen vorübergehend eine andere Schule in der Nähe. Dort bekamen wir einen neuen Klassenlehrer. Ich setzte mich in die erste Bank, weil ich glaubte, vorne vom Lehrer nicht so oft gefragt zu werden. Der Lehrer gefiel mir. Er stammte aus Ostdeutschland und war ein sehr hagerer, mittelgroßer Mann mit einer sehr großen Brille, unter der Argusaugen hervorblickten. Meine Leidenschaft zum Malen ging unter ihm mit der Zeit sogar so weit, dass ich mich während des Schulunterrichts mit einem kleinen Zeichenblock bewaffnete, in dem ich manches verewigte, was meine Phantasie anregte.
Eines Tages aber erwischte mich der Lehrer beim Zeichnen und nahm mir meinen Block weg. Nun trugen sämtliche Zeichnungen meinen recht kühnen Namenszug. Der Lehrer sah sich alles an, seine Zornesader schwoll und dann legte er los: „Das nennst Du also lernen! Und dann diese Unterschrift: Sag‘ mal, willst Du Rechtsanwalt werden? — Nee, solche Dinger kannst Du bei mir nicht machen! Aber weil Du schon so nett zeichnest, habe ich außer dem Lernen eine schöne Beschäftigung für Dich: Du wirst von heute an Deinen Schulkameraden auf der Tafel alles, was wir zum Unterricht benötigen, illustrieren “ Diese Aufgabe, zur Strafe gedacht, ehrte mich. Meine ersten öffentlichen Malversuche waren dann mit Kreide geschriebene schwungvolle Buchstaben. Der Lehrer war mit mir sehr zufrieden; denn — wie ich glaube — lag ihm das nicht, und er wurde dadurch außerdem für seinen Unterricht in der recht großen Klasse sehr entlastet.
„Freiheit, die ich meine …“
Bei mir aber wurde durch diese Tätigkeit mein Freiheitsgefühl sehr gestärkt. Wenn mein Lehrer einmal für eine Weile den Klassenraum verließ, fertigte ich auf der Tafel mit Kreide sein Ebenbild in verschiedenen Stellungen, woran die ganze Klasse ihre helle Freude hatte. Dann wischte ich diese komischen Gebilde eiligst wieder weg. Aber eines Tages — oh weh! — öffnete sich plötzlich ganz unbemerkt die Tür, und der Lehrer überraschte mich. „So!“ — sagte er nur, und als Lohn hatte ich schon ein paar ganz nette Ohrfeigen weg. Danach hatte ich für eine Weile genug von meiner Tafelmalerei … .
Als wir wieder in unsere alte Schule zurückgegangen waren, erhielten wir einen von Statur aus stattlichenMusik- und Gesanglehrer. Er hatte die Angewohnheit, gelegentlich kräftig einen über den Durst zu trinken. An einem regnerischen Nachmittag, so erinnere ich mich, hatten wir Gesangunterricht. Da meine Mutter meinen Geschwistern und mir öfter Lieder vorsang und ich ihrer für mich sehr wohlklingenden Stimme sehr zugetan war — zumal sie auch Klavier spielte und ich zuweilen dazu singen durfte —, war mir diese Gesangstunde herzlich willkommen.
Nun sollte an diesem Tage jeder Schüler ein Lied vorsingen. Als auch ich vom Lehrer aufgefordert wurde zu singen, stand ich da, wie jemand, der seine Stimme verloren hat. Ich kannte gewiss eine ganze Reihe Lieder, aber mir fehlte einfach die Courage. Der Lehrer blinzelte mir aus den Augenwinkeln zu und fragte, warum ich nicht singe. Da erwachte — wie so oft — der Ehrgeiz in mir. Ich wollte ihm nun erst recht beweisen, dass ich auch singen konnte. Und dann kam auch schon das Lieblingslied aus meinem Mund, das ich tonrein und ganz sicher sang: „Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt, komm mit deinem Scheine, süßes Engelsbild.“ Der Lehrer setzte sich, hörte mir sehr aufmerksam zu und sagte schließlich nur: „Sieh mal an. Das hätte ich Dir am allerwenigsten zugetraut.“ Und dann fragte er mich: „Sag‘ mal, ist Dein Vater Sänger?“ Ich flunkerte und antwortete nur: „Nein — Uhrmacher.“
Als sich dann einige Tage später — ich weiß noch heute, es war ein Dienstag — plötzlich die Klassentür öffnete, wurde unser Lehrer von den eintretenden Herren sehr freundlich gegrüßt. Sie nahmen Platz, und mein Musiklehrer forderte mich auf, ein Lied zu singen. Im ersten Augenblick war ich überrascht und recht befangen, aber nur einen Augenblick lang. Dann erklang wieder mein Lieblingslied: „Freiheit, die ich meine…“ Das Händeklatschen der Herren bewies mir: ich hatte ihnen gefallen.
In meinem letzten Schuljahr gastierte in unserer Stadt eine der vielen damals umherziehenden Theatergesellschaften, die immer mein Interesse erweckten. Ich bewarb mich ohne Wissen meiner Eltern als Statist. Der Direktor gab mir eine kleine Rolle — und zwar in der Oper „Die Regimentstochter“ —, bei der ich eine französische Uniform trug – eine mir insofern bedeutungsvoll erscheinende Geste, als meine Vorfahren von Vaters Seite ja aus Frankreich stammten. Ich erlebte schon am ersten Abend einen so starken Beifall, dass der Direktor mich beglückwünschte und mir anbot, meine schauspielerischen Fähigkeiten ausbilden zu lassen. Der erste Erfolg war, dass ich eine bessere Rolle, und zwar den Hortensio in derselben Oper erhielt.
Vergeblich versuchte der Direktor meine Eltern zu überreden, mich Schauspieler werden zu lassen, wobei er sogar ein Stipendium anbot. Aber der Vater, der mit Leidenschaft an seinem Beruf eines Schachtmeisters hing, wollte aus mir einen Zechen-Ingenieur machen, was mir aber überhaupt nicht lag. Die Mutter dagegen wünschte, ihr Sohn sollte ein Mediziner werden. Aber aus all dem wurde nichts. Mir blieb nur die große Sehnsucht zu malen — trotz der schauspielerischen Begabung, die ich in diesem Augenblick selbst erst erkannt hatte.
In der Heimatstadt von Henri Matisse
Der erste Weltkrieg kam, und als für mich eines Tages die Schulzeit zu Ende war, wurde ich in eine Lehre gegeben, um Schaufenstergestalter zu werden. Mitten im Krieg bot sich mir dann die Chance, meine zeichnerischen Fähigkeiten zu beweisen, als ich zu einem größeren technischen Unternehmen überwechselte. Der Zufall wollte es, dass ich bald mit einer Gruppe nach Nordfrankreich geschickt wurde, wo ein wichtiges Bauvorhaben abgewickelt werden sollte.
Dabei kam ich in die Geburtsstadt von Henri Matisse, nach Cateau bei St. Quentin. Dort fand ich sehr schnell Kontakt mit französischen Künstlern, mit denen ich in ihrem Stammcafe Billard spielte. Ich erinnere mich heute noch an manches sehr interessante Gespräch über Fragen der Kunst und der Malerei. Dabei erhielt ich viele Anregungen und kam hier erstmals auch zu wirklichem Zeichnen. Matisse selbst gehörte zu den Freunden dieser Maler, in deren Kreis ich — obwohl Deutscher — ohne jedes Ressentiment aufgenommen wurde. Es war für mich eine glückliche Zeit, in der ich trotz des Krieges und der Nähe der Front meinem seit Kindheit angestrebten Ziel näher war, als ich damals schon wusste. Natürlich hatte ich neben meinem Dienst viel Freizeit, um Studien nach der Natur zu machen. Ich wohnte bei einer französischen Familie, deren Tochter sich sehr für Malerei interessierte und selbst auch sehr begabt war. Wir zeichneten an manchen Abenden gemeinsam.
Leider sollte diese Zeit recht bald zu Ende gehen. Denn eines Mittags hatte es ein stark gewürztes Essen gegeben, wonach sich bei mir ein schrecklicher Durst einstellte und ich etwas reichlich Wasser trank. Noch in derselben Nacht wurde ich krank und musste am anderen Morgen sofort zu einem Arzt gehen, der mich meines Namens wegen prompt für einen Franzosen hielt. Ich wurde ins einzige örtliche Krankenhaus, das deutsche Lazarett, eingewiesen, wo ich einige böse Wochen mitmachte, bis ich wieder gesund war und kurz danach in die
Heimat zurückversetzt wurde. Die Krankheit verhinderte übrigens, dass ich in Cateau gemustert und in die Schlacht um Verdun geschickt wurde.
Im Lazarett von Cateau habe ich damals Weihnachten verlebt. In den Wochen meines Krankseins hatte ich mich mit einem Soldaten angefreundet, der zu Weihnachten den Auftrag erhielt, bei einer Feier mit Bescherung für die Kranken einige Lieder zu spielen. Nun war ich selbst seit meiner Kindheit ein leidenschaftlicher Mundharmonika-Spieler, und auch damals in Cateau hatte ich meine „Mundorgel“ bei mir, auf der übrigens zwei Schellen angebracht waren. Als ich die Harmonika dem Soldaten zeigte, meinte er, wir sollten doch an diesem Abend gemeinschaftlich etwas spielen. Wir probten sofort einige Lieder, und da er über mein Können sehr zufrieden war, musizierten wir am Abend dann gemeinsam. Klavier und Mundharmonika harmonierten ganz gut zusammen, so dass wir bei den Soldaten und den übrigen Gästen stürmischen Beifall fanden. In späteren Jahren habe ich oft noch an diesen schönen Heiligen Abend fern der Heimat denken müssen.
Die Welt öffnet sich
Achtzehn Jahre war ich alt, als der Krieg zu Ende ging. Für uns im Ruhrgebiet begannen nach dem Zusammenbruch Jahre des Elends und der Arbeitslosigkeit. In diesen Jahren versuchte ich, meine Malkenntnisse zu erweitern und zu vervollkommnen. Um diese Zeit — es war im Jahre 1921 — ging ich zum erstenmal nach Holland. Ich wollte die holländische Landschaft, die Welt ihrer weiten Wiesen und Grachten erleben, deren eigenartige Windmühlen und wundervolle Himmel ich schon immer in Bildern von Rembrandt und Ruysdal und bei anderen holländischen Malern bewundert hatte.
Das damals noch nötige Visum zur Einreise in dieses für uns arme Ruhrgebiets-Schlucker wirklich „Gelobte Land“ besaß ich selbstverständlich nicht. Wie hätte ich auch an ein solches Papier herankommen sollen! Aber es reizte mich, auf verbotenen Wegen nach Holland zu gelangen. Beim ersten Übergangsversuch hatte ich jedoch Pech, sofort erwischt zu werden. Ich wurde — wenigstens ohne Strafe — wieder über die Grenze nach Deutschland zurückgeschickt. Da ich mir aber nun einmal fest vorgenommen hatte, in Holland zu malen, versuchte ich es noch am gleichen Nachmittag ein zweitesmal, diesmal an einer anderen Stelle der Grenze. Links der Straße befand sich ein kleines Wäldchen; deshalb schien mir dieser Weg am geeignetsten. Gedacht — getan. Ich war schon hundert Meter auf holländischem Boden, als plötzlich jemand hinter mir herrief: „Halt — stehen bleiben!“ In meiner Aufregung hörte ich die anderen Worte nicht mehr, aber durch Schüsse, die dann plötzlich fielen, wurde ich hell wach. Im Nu hatten mich zwei holländische Grenzpolizisten gefasst und begannen mich nach dem Woher und Wohin auszufragen. Obwohl nur einer von den beiden gegen mich, der andere aber ganz offensichtlich für mich war, wurde ich in ein Holzhaus gebracht, in dem sich schon einige andere Leute befanden. Hier verbrachten wir — mehr schlecht als recht — eine Nacht, wurden dann zum Bahnhof gebracht, wo wir eine Geldbuße zahlen mussten, um schließlich in den nächsten Zug gesetzt und wieder nach Deutschland abgeschoben zu werden.
Der Traum schien aus. Und doch musste mir — das hatte ich mir geschworen — mein einmal gefasster Vorsatz gelingen, in Holland zu malen. Ich fuhr deshalb wenig später wieder an die Grenze, diesmal an eine andere Übergangsstelle. Als ich dort ankam, entdeckte ich einen kleinen Markt, auf dem Holländer alle möglichen Waren anboten. Während ich umherschlenderte, lernte ich einen Holländer kennen, der mir schon auf den ersten Blick recht vertrauenswürdig schien. Ganz im Vertrauen erzählte ich ihm dann auch von meinem Vorhaben. Er hörte sich alles an und sagte mir nur: „Komm mit!“
An dieser Grenzstelle stand ein einzelnes Haus. Seine Vorderseite war deutsch, die Rückseite holländisch. Wir setzten uns — es begann schon zu dämmern — vor das Haus, und zwar auf die holländische Seite. Als wir dann aufbrachen, war es bereits dunkel; ein dritter Mann hatte sich uns inzwischen angeschlossen. Zwanzig Minuten etwa waren wir marschiert, als uns zwei holländische Grenzpolizisten auf Fahrrädern entgegenkamen. Sie fragten, ob wir keinen Grenzüberläufern begegnet seien, was der eine Holländer, den die Polizisten offenbar kannten, nur mit einem knappen Nein beantwortete. Ich trug diesmal eine Mütze, so dass man mich wahrscheinlich ebenfalls für einen Holländer hielt. Damit war der Weg nach Holland endlich frei.
In dieser Nacht schlief ich zum erstenmal in meinem Leben auf holländischem Boden — in einer Ziegeleikarre. Am anderen Morgen — ich hatte noch einen zweiten Anzug bei mir — zog ich mich zunächst einmal um und fuhr mit einer wackligen Bahn nach Nijmegen. Während dieser Fahrt setzte sich neben mich ein katholischer Geistlicher, mit dem ich recht schnell ins Gespräch kam und mich länger unterhielt. An einer Haltestelle bestiegen zwei Grenzpolizisten die Bahn, blickten sich um, gingen aber schließlich zum Ende des Wagens. Eine gewisse Unruhe bedrückte mich doch während der folgenden einstündigen Fahrt. Als ich am Ziel ausstieg, hatte ich den Eindruck, der Pfarrer sei mein Retter gewesen.
Da ich etwas gespartes Geld bei mir hatte, mietete ich mir für mehrere Tage ein Zimmer, zog aber bald weiter, um nicht an einer Stelle zu bleiben und Aufsehen zu erregen. Denn das war mir doch zu gefährlich. Ich sagte den Leuten immer wieder — was ja auch stimmte —, ich sei Maler und wolle in Holland Bilder malen. Vier Monate streifte ich so durch das Land. Ich lernte viele Menschen kennen und konnte eine große Anzahl von Studien machen. Zurück nach Deutschland ging ich wieder „schwarz“, und zwar bei Nacht über eine kleine Grenzstelle. Wieder hatte ich Glück. Der Grenzposten war so sehr in die Lektüre eines Buches vertieft, dass ich unbemerkt unter dem Schlagbaum durchkriechen und deutschen Boden erreichen konnte. Auf der deutschen Seite befand sich ein kleines Haus, in dem sich nichts rührte. Ich sah auch keinen Menschen. Am frühen Nachmittag war ich mit einer reichen malerischen Ausbeute wieder in Hamborn, meiner Heimatstadt am Rhein.
Dieser erste längere Aufenthalt in Holland, zu einer Zeit als sich mein Können erst in der Entfaltung befand, gab meinem Mal- und Sehvermögen wesentliche Anregungen und leitete mich an, auch meine eigene Heimat, den Niederrhein, mit neuen Augen zu sehen. In meinen späteren Bildern klang das Erlebnis der holländischen Landschaft und Atmosphäre mit ihren eigenartigen Reizen des Lichts und der Himmelsstimmungen immer wieder durch. Nicht zuletzt lag es auch daran, dass ich noch oft, von 1928 an fast in jedem Jahr, in Holland weilte.
Bei Kollegen und Freunden in Holland
In Amsterdam lernte ich dabei einen holländischen Maler und Zeichner kennen. Er hatte an einer der vielen malerischen Grachten seine Staffelei aufgestellt und malte in Cl ein sehr gutes Motiv. Sein Strich war kühn und lebendig, auch in der Farbe war er sehr ausdrucksstark. Ich sah ihm eine Weile zu und kam dabei mit ihm ins Gespräch. Er schwärmte von Deutschland, war aber noch nie „drüben“ gewesen. Als er hörte, ich sei ebenfalls Maler, lud er mich in seine Wohnung im Süden von Amsterdam ein.
Dort hatte er ein sehr nettes Haus, in dem er ein großes Atelier bewohnte. Auf mehreren Staffeleien standen angefangene Arbeiten. Auch die Wände hingen voller Bilder und Zeichnungen, die mir gut gefielen. Er war sehr gastfreundschaftlich, es gab Kuchen, Tee und hinterher einen Genever. Als ich ihm mein Kompliment wegen seiner Bilder machte, drückte er mir fest meine Hände und umarmte mich kollegial. Er bot mir an sein Atelier zu benutzen und lud mich ein bei ihm zu wohnen.
Gemeinschaftliche Interessen, viele gegenseitige Anregungen und ein reicher Gedankenaustausch festigten unsere Freundschaft. Als ich über meine Ideen und Pläne in der Malerei sprach, war er begeistert. Von da an gingen wir oft gemeinsam an die Arbeit, am ersten Tag zu dem Motiv, bei dem wir uns kennenlernten. Er malte in 01, während ich aquarellierte. Wir hatten bald eine große Menge Zuschauer, jung und alt. Im Atelier sah er sich dann meine Bilder lange an. Was ihn, den stark im Naturalismus verhafteten Holländer faszinierte, war die Zahl und Art der Farben, die ich benutzte. „Bleiben Sie doch in Holland“, riet er mir, „ich glaube sicher, Sie fänden starke Beachtung.“
Insgesamt drei Monate blieb ich in dieser äußerst malerischen Stadt und lernte durch meinen holländischen Freund viele Maler und Bildhauer kennen. Gemeinsam besuchten wir das Rijksmuseum und bewunderten die reichen Schätze dieser Kunstsammlung. Bei dieser Gelegenheit sah ich zum erstenmal die „Nachtwache“ von Rembrandt. Es war für mich ein tiefgreifendes Erlebnis, das wunderbare geheimnisvolle Licht dieses Bildes und die bezaubernden Schatten zu studieren. Lange und oft stand ich vor diesem gewaltigen Kunstwerk. Immer wieder zog es mich zu ihm hin, um ganz in sein Geheimnis einzudringen. Auch Rembrandts Selbstbildnisse sowie Werke von Frans Hals und vieler anderer großer alter Meister hinterließen bei mir einen gewaltigen Eindruck. Im städtischen Museum sahen wir fast das ganze Lebenswerk van Goghs, sehr viele Gauguins, Renoirs, Chagalls und Werke anderer bedeutender Maler.
Mein holländischer Freund besuchte mich später öfters in Deutschland. Wir fuhren zusammen an den Rhein und an die Mosel, in den Schwarzwald oder zur Eifel und malten auch hier gemeinsame Motive. Einige Jahre später starb er dann plötzlich.
Durch ihn lernte ich noch einen anderen Maler kennen, der — obschon vollständiger Autodidakt — recht gute Bilder malte. Er wohnte in einer Stadt nahe der deutschen Grenze. Wir freundeten uns an und hielten viele Jahre engen Kontakt, den erst der Krieg beendete. Mit ihm fuhr ich an einem sonnigen Morgen nach Amsterdam; denn er hatte noch nie einen van Gogh im Original gesehen, obwohl er von diesem Maler, der auf so tragische Weise sein armseliges Leben beendete, geradezu schwärmte. Im städtischen Museum fand zu unserem Glück eine große van Gogh-Ausstellung statt — ich glaube von über zweihundert Werken, unter ihnen auch die berühmten „Kartoffelesser“. Mit großer Ehrfurcht betrachtete er die Bilder und bewunderte sie.
Da ich diesen Werken van Goghs schon mehrfach begegnet war, hatte ich beim Durchwandern der Räume immer einen kleinen Vorsprung. Wir verloren uns deshalb bald, zumal an diesem Tag eine große Studentengruppe die Ausstellung besichtigte. Ich suchte meinen Freund in allen Räumen, konnte ihn aber nicht finden; er war wie spurlos verschwunden. Schließlich entdeckte ich ihn doch, aber in welcher Stellung! Er saß auf einer der mit Plüsch überzogenen Ruhebänke und schlief den Schlaf des Gerechten. Er sah mich, als ich ihn weckte, ganz erstaunt an. Er war vom Betrachten der vielen Bilder so müde geworden, dass er sich hatte hinsetzen müssen und dabei eingeschlafen war. „Dass mich Bilder so müde machen könnten, daran habe ich bisher nie gedacht“, meinte er. Noch lange sprachen wir, auch in seiner Familie, über diesen Museumsbesuch, der für ihn — wenn auch nur für ein Viertelstündchen — mit einem süßen Schlaf endete. Von diesem Tag an hat er eine ganze Reihe van Gogh-Bilder tadellos kopiert. Ich kopierte nur den Zuaven mit der roten Hose sowie zwei Selbstbildnisse, das mit gelber und das mit blauer Jacke.
Von dieser Zeit an besuchten wir uns abwechselnd, ich ihn in Holland und er mich in Deutschland. Dann kam der Krieg. Wir schrieben uns noch einige Zeit lang, aber mit einem Male blieb seine Post aus; ich habe nie wieder etwas von ihm und seiner Familie gehört.
Später lernte ich dann eine holländische Familie kennen, bei der ich bis 1939 fast jeden Sommer wohnte. Auch aus diesen Besuchen entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Der Mann war ein leidenschaftlicher Amateurfotograf. Er malte außerdem recht gut und arbeitete auch plastisch. Überhaupt fand alles, was mit Kunst und Wissenschaft zusammenhing, sein Interesse. Das Ehepaar besaß einen sehr schönen und aufmerksamen Schäferhund. Wenn ich zeichnete, hatte ich manchmal den Eindruck, als ob er mir zusah.
Ein Frans Hals vom Trödler
Ich erinnere mich aus diesen Jahren an ein aufregendes Ereignis, das uns alle sehr bewegte, mir selbst jedoch Anlass zu neuen Malversuchen war. Eines Tages nämlich kam mein Freund aufgeregt nach Hause und zeigte mir stolz ein kleines Bild, von dem er fest behauptete, es sei ein echter Frans Hals, und zwar der „Lautenspieler“. Er hatte das Bild bei einem Trödler entdeckt und billig erworben. Im ersten Augenblick glaubte ich es selbst. Bei genauerem Zusehen aber sah ich, dass das Bild aufgepresst war. Ich bat meinen Freund deshalb, das oberste Blatt abzulösen. Wir waren sehr erstaunt, als beim Abtrennen noch zwei weitere Landschaftsbilder zum Vorschein kamen. Jetzt merkten wir den Schwindel, dem wir aufgesessen waren: Das oberste Bild war nämlich ein sehr geschickt übermalter Druck. Die Enttäuschung war sehr groß. — Später habe ich dieses Bild von Frans Hals naturgetreu in Öl kopiert und es meinem Freund geschenkt. Es erhielt in seinem Atelier den schönsten Platz, und seine Frau und er hatten sehr viel Freude daran.
So bin ich Jahr um Jahr in Holland gewesen, habe dort ein Jahrzehnt lang Menschen und Landschaften studiert und vor allem die wundervollen Abendstimmungen in mich aufgenommen. Hier erschloss sich mir eine Natur, die ich seither auch in meiner engeren Heimat, vor allem am linken Niederrhein, mit offeneren Augen sah. Auch Anfang 1939 war ich wieder in Holland, um Anregungen zu gewinnen und neue Bilder zu malen. Eines Tages malte ich im Freien einen Baum mit einer alten Brücke, als ich mit einem Herrn ins Gespräch kam, der das fast fertige Bild eingehend betrachtete und von ihm begeistert war. Er lud mich zu einem Drink ein und dabei stellte sich dann heraus, dass mein Gastgeber Holländer und Kunstsammler war. Er bat mich einige Tage später zu sich in seine Wohnung und kaufte mir das Bild mit Brücke ab, wobei er übrigens meinte, Hitler liebe solche Farben nicht in der deutschen Malerei. Wie recht er hatte, wusste ich nur zu gut. Durch ihn lernte ich einen Arzt kennen, dessen Bruder selbst Maler war und sich meist in Afrika aufhielt. Als er später Holland besuchte, konnte ich auch seine Bekanntschaft machen. Er war ein sehr liebenswürdiger Kollege, der meinen Bildern recht zugetan war wegen meiner schon damals ausgeprägten starken Farbigkeit, während er selbst naturalistisch, genau nach der Natur malte.
In jenem Jahr 1939 übrigens — wenn ich zunächst von meinen Maler-Erlebnissen in Holland abschließend berichten darf, bevor ich in meiner Lebensschilderung wieder in die Zeit der deutschen Inflation nach dem ersten Weltkrieg zurückkehre — wurde man als Deutscher in Holland verständlicherweise vielfach mit recht kritischen Augen beobachtet, zwar weniger von den Holländern selbst, aber doch von den holländischen Behörden. Ich wunderte mich deshalb gar nicht, als ich im Sommer 1939 eines Tages zur Polizeiwache geladen wurde und mir ein von Statur sehr großer Polizist einen längeren Vortrag über Hitler hielt. Zum Schluss eröffnete er mir, was offensichtlich sein eigentlicher Auftrag war, er müsse mich leider dabehalten; denn es sehe nach Krieg aus und ich sei ja Deutscher.
Ich war sehr niedergeschlagen; denn was hatte ich schon mit dieser Sache zu tun, dass da angeblich ein Krieg kommen sollte. Vielleicht hielt er mich sogar für einen Spion? Es kostete mich einige Mühe, ihn zu beruhigen. Ich nannte ihm eine Reihe von Namen und bat ihn, doch alle diese Leute, bekannte und angesehene Holländer, anzurufen, damit sie ihm Auskunft gäben und bestätigten, dass ich ihnen schon seit langen Jahren bekannt sei und immer wieder nach Holland komme, ausschließlich um zu malen. Zum Schluss, nachdem ich schon anderthalb Stunden auf der Polizeistation verbracht hatte, bequemte er sich endlich dazu und rief meine holländischen Freunde an. Ich war dann sehr erstaunt, wie freundlich er mit einem Male zu mir wurde und schließlich meinte, es wäre für mich jetzt alles soweit in Ordnung. Aber ich müsste mich trotzdem noch einmal bei ihm melden, da ich höchstens noch acht Tage in Holland bleiben könne. Dann müsse ich das Land verlassen.
So endete diese Studienreise recht unglücklich. Einige Zeit später brach dann wirklich der zweite Weltkrieg aus, und ich wurde Soldat. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich sechs Jahre lang Uniform tragen und alles verlieren sollte, was ich bis dahin geschaffen hatte.
Berliner Luft
Doch fünfzehn Jahre zurück. Damals — zu Beginn der „Goldenen zwanziger Jahre“ — ging ich nach Berlin. Ich hatte nicht allzu viel Gepäck mit; aber es enthielt einen Frack, meinen kostbarsten Anzug. In Berlin konnte ich bald mit einem Graphiker, einem großen Beethoven-Verehrer, als Gestalter von Schaufenstern und von Kinoreklame zusammenarbeiten. Für mich als jungen Menschen brachte die Reichshauptstadt gerade in jenen politisch hektischen, im Künstlerischen aber so fruchtbaren revolutionären Jahren eine Fülle wertvoller Anregungen. Im gemeinsamen Atelier mit meinem Freund entstanden in jenen Jahren Versuche, Menschen und Impressionen des pulsenden Lebens von Berlin festzuhalten.
Mit Behagen atmete ich die Berliner Luft mit ihrem Duft von Kunst, Kultur und dem Flitter der Filmwelt. Denn in dieser Zeit erhielt ich auch engeren Kontakt zu Filmkreisen. Fast vierzig Jahre sind seither vergangen. Aber ich weiß genau, als ob es heute wäre, wie mir zu Mute war, als ich eines Tages zu Fritz Lang in sein Stadtbüro auf der Friedrichstraße ging. Ich sollte einen Vertrag als ungarischer Honved-Offizier erhalten. Auch Georg Jacoby bestellte mich zu Probeaufnahmen. Leider scheiterte meine Zukunft als Schauspieler daran, dass man mir meinen Frack gestohlen hatte und ich nicht genügend Geld besaß, um mir einen neuen zu kaufen oder auch nur zu leihen.
Ersehnte Zeit des Studiums
Von Berlin ging ich bald wieder zurück ins Rheinland, fest entschlossen nun erst recht ernsthaft zu studieren, um Maler zu werden. Deshalb nahm ich zunächst in einem Kaufhaus eine Stelle in meinem erlernten Beruf als Schaufenstergestalter an. In meiner freien Zeit aber stürzte ich mich mit besonderer Liebe auf die Malerei und erweiterte meine Kenntnisse, insbesondere in der Komposition. Und dann kam endlich der ersehnte Tag, da ich ein wirklich ernstes Studium bei einem Meisterschüler des berühmten Malers Professor Junghans beginnen konnte. Wie glücklich war ich! Dabei lagen sechs Jahre Qualen und Entbehrungen vor mir, was ich damals noch nicht ahnte. Ich hatte aber einen unbeugsamen Willen und hielt eisern durch.
Bald wurde ich durch eine kleine Ausstellung im Klassenzimmer meines Lehrers geehrt und anerkannt. Endlich war ich ein Maler, von dessen Beruf ich als Kind schon so oft am Kaminfeuer der Mutter geträumt hatte. Es waren harte Jahre des Suchens. Ich zeichnete und malte täglich viele Stunden — oft bis in die tiefe Nacht. Immer wieder gelangen mir gute Ansätze. Aber auch die Unzufriedenheit machte sich zur gleichen Zeit bemerkbar. Manchmal — sehr oft sogar — wollte trotz größter Hingabe und intensivster Anstrengungen einfach nichts zu meiner Zufriedenheit gelingen. Trotzdem verzagte ich nicht. Jeder Tag gab mir neue Energie und mit ihr wieder neue Hoffnung.
Mir schwebte etwa ein Bild vor, aber dann erreichte ich nur Andeutungen der Idee. Oft wollte ich schon alles aufgeben; denn es war so schwer, schwerer als ich es mir gedacht hatte. Aber du willst doch etwas gestalten, sagte ich mir dann immer und begann mit neuer Kraft zu malen, bis der Erfolg auch schließlich nicht ausblieb. Nur immer weiter, sagte ich mir dann; alles muss erkämpft werden. Und so malte ich mit neuer Kraft und festem Mut. Einmal — davon war ich fest überzeugt — würden mir der große Wurf und die Vollendung doch gelingen. Dieser Glaube an mich selbst war es, der in mir siegte und mich durchhalten ließ.
Die Zeit der Kunstfunktionäre
Innere Kraft hatte ich in diesen Jahren, da die Kunst von den Machthabern des Dritten Reiches und ihren Kunstfunktionären gegängelt wurde, mehr denn je zuvor nötig. In den ersten Jahren, als ich mich noch stark am Anfang meiner künstlerischen Entwicklung befand, wurde ich als Maler durchaus anerkannt. Ich konnte mich an lokalen und regionalen Ausstellungen beteiligen sowie an größeren Wanderausstellungen des Künstlerbundes, die in Berlin, Hannover, Hamburg, Nürnberg und München gezeigt wurden. Die Kritik war zwar nicht immer so, wie sie nach meinen Hoffnungen hätte sein können. Sie gab mir aber trotzdem neuen Ansporn. Und ich ließ mich nicht unterkriegen.
Ich musste es jedoch zu meiner Überraschung und — ich verhehle es nicht — zuweilen mit einer gewissen inneren Befriedigung erleben, dass die meist der offiziellen Richtung verpflichteten Juroren meine Bilder zunehmend ablehnten, weil sie sich nicht in Gegensatz zur landläufigen Kunstauffassung setzen wollten. So erging es mir in allen möglichen Städten, etwa in Hagen, Essen, Düsseldorf, Köln und Berlin. Hin und wieder musste ich dann — fast als Entschuldigung — hören, die Menschen der Gegenwart verstünden meine Werke nicht, sie müssten erst noch in diese Malwelt eingeführt werden, weil sie dem Begriffsvermögen vorauseile. Meist aber gab man mir in solchen Fällen die Bilder mit fadenscheinigen Gründen einfach zurück.
Überraschenderweise wurde ich trotzdem später in den ersten Kriegsjahren, als ich noch Mitglied des Künstlerbundes war und damit der damaligen Zwangsorganisation der Reichskulturkammer der Bildenden Künste angehörte, sogar offiziell aufgefordert, für die große deutsche Kunstausstellung im Haus der Kunst in München mehrere Arbeiten einzureichen. Ich wusste im ersten Augenblick gar nicht, wie mir diese „Ehre“ von einem Gremium widerfahren sollte, das mir in den vergangenen Jahren alles andere als wohlgesonnen gewesen war; das zudem nichts unversucht gelassen hatte, mein Wirken in der Öffentlichkeit zu diskreditieren und wenn möglich ganz zu unterbinden.
Den dreimonatigen Sonderurlaub, der mit dieser Einladung auf Grund eines „Führer“-Erlasses verbunden war, ließ ich mir wohl gefallen, da ich während dieser Zeit nicht Soldat zu sein brauchte, sondern auch malen konnte. Aber eigentlich war ich dann gar nicht sonderlich überrascht, als nach Eröffnung der großen Schau in München ein eingeschriebener Brief mir kundtat, dass man zwar meine sechs Arbeiten erhalten, sie aber nicht angenommen habe, da sie angeblich nicht in den „Rahmen“ passten. Sie passten aber nicht in die Richtung, wie mir wieder einmal bestätigt wurde; denn ein an sich liberaler Kulturfunktionär, den ich gut kannte, erzählte mir, meine schon aufgehängten Arbeiten seien bei der Nachzensur von höchster Stelle wieder abgehängt worden, da sie nach Ansicht der „Offiziellen“ mit deutscher Kunst nichts zu tun hätten.
Es wunderte mich deshalb auch nicht, dass ich sogar, wenn auch zugunsten des Winterhilfswerks, zu einer harten Geldbuße verdonnert wurde. Außerdem hatte ich von dieser Zeit an das wenig erfreuliche „Vergnügen“, meine Arbeit einer strengen Kontrolle unterstellt zu wissen. Ich sollte jedes Vierteljahr der Kulturkammer in Berlin Fotos von allen Arbeiten einreichen, die ich neu gemalt hatte. Das tat ich jedoch nicht. Da ich während des weiteren Krieges Soldat blieb (und sogar über das Ende noch hinaus), schöpfte man in Berlin keinen Verdacht, obwohl ich in meiner Freizeit weiterhin malte wie bisher.
Nach dem großen Zusammenbruch
Ende 1945 kam ich nach Duisburg zurück. Ich stand praktisch vor dem Nichts. Schon zu Kriegsanfang hatte ein Angriff auf Essen, wo ich noch einmal im Folkwang-Museum hatte ausstellen können, einige meiner besten Bilder vernichtet. Jetzt fand ich nicht nur Wohnung und Atelier zerstört, sondern auch die gesamte bisher geschaffene Produktion an Zeichnungen, Aquarellen und Ölbildern war ein Raub der Flammen geworden. Was ich besaß, waren die abgetragene Uniform, die ich seit Jahren auf dem Leib hatte, eine dünne Wolldecke und eine kleine Tasche mit wenigen Habseligkeiten. — Ich musste wieder ganz von vorn anfangen.
Die ersten Nächte in meiner Heimatstadt verbrachte ich auf dem Fußboden der Hauptbahnhofshalle, wo ich mich mit meinem Mantel zudeckte. Da alle Bekannten ausgebombt waren, musste ich dann für viele Wochen in einen halbzerstörten Bunker umziehen, wo ich nachts in einem Flur eine Bank als „Bett“ erhielt. Ein einigermaßen bescheidenes Atelier zu erhalten, blieb vorläufig ein unerfüllbarer, wenn auch schöner Traum. Zu meinem Glück verkaufte ich wenigstens gelegentlich ein Bild, um leben und neues Arbeitsmaterial kaufen zu können.
In einer ehemaligen kleinen Trinkhalle, in die ich schließlich zog, entstanden unter den größten Entbehrungen meine ersten Zeichnungen und Bilder. Und wieder war ich glücklich, dieses Obdach zu haben, um malen zu können. Nachts schlief ich die erste Zeit auf einer Marmorplatte, bis mir Freunde eine andere Schlafunterlage besorgten. Da in der Trinkhalle ein kleiner Ofen stand, konnte ich den Raum erwärmen, wenn ich etwas zum Heizen hatte. Bevor ich morgens anfing zu malen, suchte ich deshalb erst in den Trümmern ringsum, in denen sich die Ratten ein Stelldichein gaben, nach Brennmaterial.
Trotz aller äußeren Bedrängnisse und der Not war es eine Zeit, die ich niemals vergessen werde, unter meinen Lebenserfahrungen aber auch nicht missen möchte. Es stellten sich bald die ersten Kunstliebhaber ein und kauften mir meine unter derart primitiven Umständen gemalten Bilder ab. Auch befreundete Maler waren öfters bei mir in dem engen Raum zu Gast und sahen zu, wie ich arbeitete. Aber die Lage war auf die Dauer doch unmöglich. So malte ich an einem Abend, als der Ofen mein Trinkhallen-„Atelier“ gut wärmte, ein Männerbildnis. Beim Zurücktreten, um den Fortschritt des Bildes zu betrachten, kam ich im Eifer der Arbeit jedoch zu nahe an die glühende Ofenplatte. Erst als es nach Rauch roch, bemerkte ich, dass meine Hose bereits angebrannt war. — Das angefangene Bild ist trotzdem gut gelungen und später auf einer Schweizer Ausstellung sehr gelobt worden.
Wie glücklich war ich dann, als mir in einem halbwegs intakten Haus ein großer Raum zugewiesen wurde — wenn ich ihn auch mit einem anderen teilen musste — und ich jetzt besser malen konnte. Die Wände und der Boden waren zwar aus Beton, aber ich war trotzdem sehr glücklich, endlich ein richtiges kleines Atelier zu haben, in dem nun auch größere Bilder entstehen konnten. Es gelang mir, einige alte Möbel zu bekommen und vor allen Dingen ein paar Unterlagen, die mir als „Himmelbett“ dienten, denn an die kalte Marmorplatte der früheren Trinkhalle denke ich bisweilen heute noch mit Grausen.
Ich glaubte damals, es geschafft zu haben, aber die Freude war nicht von langer Dauer. Denn ich musste das Zimmer bald wieder für eine obdachlose Frau mit Kindern räumen. In meinem nächsten provisorischen Domizil holte ich mir dann eine blutende Nierenentzündung, die mir bis heute zu schaffen macht, da man das Haus unten einfach abgerissen hatte und die oberen Etagen Wind und Wetter ausgesetzt waren. Nicht zuletzt zahlreichen Presseartikeln war es dann zu verdanken, dass man mir eine, wenn auch kleine Wohnung, in einem wiederaufgebauten Haus zuwies mit einer winzigen Kochküche, einem Schlafzimmer und einem knapp zwölf Quadratmeter großen Raum, der mir Wohnzimmer ist, gleichzeitig aber auch als „Atelier“ dienen muss. Hier male ich seither —ungeachtet der Enge des Raumes, seines eigenartigen schlechten Lichts und der Unruhe durch den Verkehr.
„Der Strom”
In den ersten Jahren nach dem Ende des Krieges gelang es in mühsamer Arbeit, dem künstlerischen Schaffen wieder Beachtung und Anerkennung in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Nicht zuletzt hat dazu auch die Duisburger Künstlergruppe „Der Strom“ beigetragen, die bereits im Herbst 1945 ins Leben gerufen werden konnte. In ihr fanden sich die damals in meiner Vaterstadt lebenden Künstler, vier Maler und ein Bildhauer zusammen. Von meinen Kollegen wurde ich einmütig zum Vorsitzenden gewählt.
Die noch nicht in Form gebrachte Zeit erforderte von uns allen sehr viel Anstrengung und Mut, Kraft und Energie, um mit dieser neuen Künstlergruppe in der Öffentlichkeit auch hohen künstlerischen Anforderungen zu entsprechen. Wir veranstalteten schon bald eine recht gut aufgenommene Ausstellung, für die uns die Stadtverwaltung im Rathaus Räume zur Verfügung stellte. Von städtischer Seite wurde sie sehr begrüßt und gefördert. Auch eine Gemeinschaftsausstellung mit weiteren, außerhalb der Gruppe stehenden Künstlern in der Düsseldorfer Kunsthalle hatte guten Erfolg und fand sehr regen Zuspruch. So wurde die Künstlergruppe „Der Strom“ zum ersten Fundament für den Aufbau guter künstlerischer Kräfte nach dem Kriege in Duisburg. Es war recht bedauerlich, dass sie kein langes Leben erreichte. Denn nach und nach bröckelte es in dieser Vereinigung, die sowieso nur wenige Mitglieder zählte, so dass sie sich schließlich auflöste und jeder seinen eigenen Weg ging. Wir blieben zwar alle weiterhin gute Freunde, aber es war recht betrüblich, dass dieser erste Zusammenschluss von Künstlern so schnell endete.
Ausstellungen im In- und Ausland
Ich hatte in diesen Jahren schon wieder eine ganze Anzahl stark farbiger Bilder gemalt. Mit ihnen konnte ich mich an kleinen Ausstellungen beteiligen, so an einer ersten Gemeinschaftsausstellung Duisburger Künstler, die der damalige Oberbürgermeister eröffnete. Meine Bilder fanden guten Anklang, ich verkaufte sogar einige.
1947 richtete mir das Museum meiner Heimatstadt Duisburg eine erste Kollektiv-Ausstellung von 80 Arbeiten aus, die einen so erfreulichen Erfolg hatte, dass ihr bald eine weitere mit 100 Arbeiten folgen konnte. Die Zeitungen schrieben damals, die Leitung des Duisburger Kunstmuseums habe recht getan, mich auszustellen. Denn ich wurde in diesen Monaten — wie die Presse schrieb — geradezu „entdeckt“ — nicht nur von Dr. D’ham, dem damaligen Duisburger Kulturdezernenten und Leiter des Museums, sondern auch von vielen deutschen und ausländischen Kunstfreunden. Glücklich war ich dann, als ich von einer weiteren Kollektiv-Ausstellung erfuhr, die in der Schweiz stattfinden sollte. Mit ihr erhielt ich als erster deutscher Maler nach dem Kriege die Möglichkeit, in Luzern auszustellen.
Für einen deutschen Maler, der während des Krieges in Deutschland gelebt hatte, war es in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch unter den damaligen Verhältnissen nicht leicht, seine Werke im Ausland zu zeigen. Denn die Besatzungsmächte hatten ein gewichtiges Wort mitzusprechen und legten einen hohen künstlerischen Maßstab an. Ich musste meine Arbeiten einer aus internationalen Experten bestehenden Jury einsenden, die ihren Wert beurteilte. Nach einiger, mit bangem Erwarten verstrichenen Zeit erhielt ich endlich die Zusage, dass ich meine Bilder im Ausland bei der geplanten Ausstellung in Luzern verwenden könne. Sie fand erfreulicherweise allenthalben starke Beachtung und wurde noch verlängert. Selbst in Schweden interessierte man sich für diese Bilder.
In diesen Jahren lernte ich auch den französischen Kulturminister Arnal kennen, der von meinen Bildern sehr angetan war und mir recht schmeichelhafte Worte sagte. Spontan fasste Minister Arnal den Entschluss, eine Kollektiv-Ausstellung meiner Arbeiten im Haus der französischen Kultur in Düsseldorf zu veranstalten.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein sehr amüsantes Erlebnis. Als ich kurz vor dieser Ausstellung eine Anzahl meiner Bilder Minister Arnal und dem französischen Beauftragten für künstlerische Formbildung, Professor M., zeigen wollte, hatte man mich nach der Anmeldung in ein großes Vorzimmer geführt. Dort wurde ich von einer dunkelhaarigen und zierlichen, recht charmanten Französin herzlich begrüßt. Sie war aber ungeachtet ihres Charmes sehr neugierig und bat mich, da ich sowieso warten müsste, ihr doch einen Blick in meine Bilderrolle zu gestatten, was ich denn auch tat. Sie war entzückt und verliebte sich, wie sie sagte, direkt in meine Farben, die sie „seelisch“ nannte. „Sie haben Frankreich mit seiner ganzen Atmosphäre in diesen Bildern erlebt“ — meinte sie — „und in einmaliger persönlicher Form und Farbe wiedergegeben. Diese Werke atmen, sie leben, und man glaubt, Sie wären in Frankreich geboren und aufgewachsen.“ Im Nu verflog die Stunde, die ich im Vorzimmer warten musste, bis der Minister und sein Begleiter, Professor M., das Zimmer betraten, um die von mir ausgewählten Bilder zu sehen.
Meine Kollektiv-Ausstellung im Haus der französischen Kultur zeigte dann ungefähr achtzig Arbeiten, die mit starkem Interesse aufgenommen wurden. Die Besucherzahl war sehr groß. Die Bekanntschaft des Ministers verdankte ich übrigens der französischen Pianistin Alberte Brun aus Paris, die — sehr stark von meiner Malerei beeindruckt — bei ihren beliebten Konzertabenden meine Bilder mehrere Male dem Publikum vorgestellt hatte. Seither hatte ich im In- und Ausland zahlreiche Kollektiv-Ausstellungen in städtischen Museen und Privatgalerien zu verzeichnen, so in Dortmund, Essen, Remscheid, Düsseldorf, Köln, München, Bamberg, Nürnberg, Frankfurt, Berlin, Hannover, Stuttgart und Heidelberg. Allenthalben fand ich dabei ein starkes Echo in der Presse. Man nannte mich einen „Maler der ausdrucksbetonten Farbe“.
„Noch mehr als Nolde“ — so hieß es in einem Bericht, der zu einer sechswöchigen Kollektiv-Ausstellung in Nürnberg erschien — „steht Calmés auf dem sentimentaleren Flügel des Expressionismus. Seine farbige Ausdruckswelt lässt ihn zu den Fortsetzern und Weiterträgern der Ideen- und Erfindungswelt der großen deutschen expressionistischen Kunsttradition zählen. Die Bilder werden in einem Maße von der Kraft und Ausstrahlung der Farben beherrscht, wie es in der Gegenwartskunst geradezu sensationell ist. Man muss schon zu Gauguin und van Gogh zurückgehen, um Vergleiche zu finden. Aber Calmés ist in seiner Art absolut eigenständig. Man kann bei seinen Ölbildern und vielleicht noch mehr bei seinen wundervoll lockeren, poetisch überglänzten Gouachen von einer Wiederentdeckung der Eigenständigkeit der Farbe in der modernen Malerei sprechen. In dieser Fülle — aus einem Hirn, aus einem Herz und mit einem Malerpinsel geschaffen — machen diese Bilder einen Malstil offenkundig, den es heute kaum noch gibt. Wie er den flammenden Expressionismus eines Nolde und Waldmann neu erlebt, fasziniert.“
Auch in Berlin, wo ich in den letzten Jahren mehrfach Bilder zeigen konnte, las ich manch anerkennendes Wort in der Presse. In der Berliner Morgenpost schrieb Hellmuth Kotschenreuther: „Die dramatisch bewegten Wolkenbildungen an hohen Himmeln, die inbrünstig glühenden Sonnenuntergänge und die in heftigen Rots und Gelbs aufflammenden Blüten weisen den Bildern Peter Calmés ihren Standort zu. Er liegt in der Nähe der ,Brücke`-Expressionisten, vor allem Noldes, dessen Ekstatik Calmés ins Populäre und Gefällige wendet. Ein Spätexpressionist, der abermals zeigt, dass man die Natur auch als ein ewigwährendes Farbendrama begreifen kann.“
In Bamberg, einer Stadt, zu der ich eine besonders innige Liebe habe, beteiligte ich mich an einer weitgespannten Autographen-Ausstellung von Briefen und Handzeichnungen aus der Zeit der Romantiker bis heute. „Aus den Handschriften des Romantikers Caspar David Friedrich, Lenbachs, Kandinskis, Feiningers, Klees und Calmés“ —schrieb die Presse — „kann man wie aus einem Buch lesen.“ Die Galerie Rauh stellte später übrigens Litographien von Chagall und Aquarelle von mir gemeinsam aus. Die Experten nannten diese Ausstellung eine gelungene Ergänzung und wiesen auf einen leisen verwandtschaftlichen Zug meiner Arbeiten mit Chagall hin. „Dass er in dieser Ausstellung seinen Platz mit Chagall teilt, mag als verdiente Auszeichnung angesehen werden. Sie sei ihm mit Recht gegönnt.“
Auch im Ausland hatte ich — nach der ersten Luzerner Ausstellung — weiterhin recht schöne Erfolge. So konnte ich in Holland ausstellen zu einer Zeit, als die holländische Presse einem deutschen Maler noch wenig freundlich gesonnen war. Schließlich hatte ich die Ehre, die Stadt Duisburg als einziger Maler 1952 anlässlich einer Ausstellung in der englischen Patenstadt Portsmouth mit einer Auswahl von neunzig meiner neueren Werke zu vertreten.
Geblieben aber ist mir die kleine enge Wohnung, in die ich Anfang der fünfziger Jahre einziehen konnte — das Schlafzimmer, die Kochküche, das Bad, das zugleich als Bilderdepot dient, und das winzige Wohnzimmer mit seinem schlechten Tageslicht, mein „Atelier“. Hier sitze ich — meist zur Nacht — und male. Denn ich liebe die nächtlichen Stunden. Immer schon hatte das Dunkel auf mich und meine Arbeit einen großen Reiz ausgeübt, mir die besten Inspirationen gegeben und mich dazu verleitet, nachts viel zu arbeiten. Seit ich das behelfsmäßige Atelier bezog, wurde mir die frühere Liebe zu nächtlicher Tätigkeit oft zu einer Qual — aber zu einer Notwendigkeit, da mir nur die Ruhe der Nacht und das grelle Licht der Lampe ein konzentriertes Arbeiten möglich machten. So sitze ich hier in den Nächten und mühe mich mit meinen Farben vor einem primitiven Arbeitstisch; denn der Raum bietet keinen Platz, auch nur eine einzige Staffelei aufzustellen. Ich bin gezwungen, mit der Leinwand oder dem Block auf den Knien zu malen. Oder ich spanne die Leinwand auf den Boden, befestige sie mit Heftzwecken und male, indem ich auf den Knien liege. Nachdenken über diese unwürdige Art zu malen durfte nicht, sonst würde mir die Lust zur Gestaltung vergehen. Was hatte ich nicht schon alles angestellt, an welche Stellen war ich nicht bereits herangetreten, um ein wirkliches Atelier zu erhalten, einen großen Raum, in dem ich wenigstens eine Staffelei aufstellen und stehend arbeiten konnte und nicht mehr in dieser auch körperlichen Qual! Alles war bisher nutzlos. Ich musste mich schließlich mit meinem Schicksal abfinden und verlor darüber auch fast den Glauben an die Menschen, zumal ich zum Schluss trotz anerkannter Leistung und großer Anerkennungen öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen musste, um weiterleben zu können. Aber ich liebe meine Heimat zu sehr, als dass ich Vorschläge und Angebote hätte annehmen können, in einem anderen Land ein Atelier, dazu Aufträge, ein sicheres Einkommen und sogar Titel zu erhalten. Ich lehnte sie alle ab und gehe lieber in meiner Heimat den untersten Weg … solange ich das aushalten kann.
Meine Handschrift
Ungeachtet der Erschwernis meiner Arbeit entstand mir in den letzten Jahren eine ganz neue Perspektive und schließlich eine Farbenordnung zur großen Form, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Die Entdeckung neuer Farbschalen führte mich auf einen neuen Weg, und zwar zur Gouache-Malerei auf französischem Papier und schließlich — da es mich nicht ganz befriedigte — auf Japanpapier, das ich eines Tages als beglückende Lösung fand. An dieser Stelle darf ich deshalb einige Anmerkungen über meinen Weg zur Gouache-Malerei machen.
Zunächst interessierte mich die Ölmalerei. Mal behandelte ich die Farben pastos, dann aber reizte es mich, 01 wie Aquarell zu gestalten, was mir nach unendlich vielen, qualvollen Versuchen auch gelang.
Auf einmal begann ich, mit Wasserfarben zu malen. Sie erinnerten mich an meine ersten Versuche als Kind. Das Durchschimmern dieser wundervollen Farben ließ in mir immer wieder neue Ideen aufkommen. Ich fand sie explosiv, märchenhaft, vital; sie erweckten in mir die Vorstellung zwischen Kabarett und Theater. Mit ihrer Farbenpracht konnte ich die ganze Welt in meine Bilder bannen. Sie hatten etwas Intimes in mir geweckt und damit die Liebe zu intensiver Arbeit sowie die Steigerung meines persönlichen Ehrgeizes erreicht.
Durch sie erhielt ich plötzlich eine ganz andere Richtung, die starke dramatische Ausdrucksmöglichkeiten offenkundig machte. Von nun an spielte bei mir jede dieser Wasserfarben eine Rolle — wie Schauspieler auf der Bühne. Ich malte eine ganze Folge dieser bezaubernden Bilder. Das erste Sandkorn brachte mir keine Niederlage, sondern nur ein Vorgefühl von noch ungeahnten Revolutionen.
In dieser Zeit verliebte ich mich neuerdings in die alten Meister. Ich begann sie zu studieren und kopierte viele, um in das Reich ihrer Kunst einzudringen und ihren Charakter kennenzulernen. Die Spannungen von Licht und Schatten in ihren Bildern reizten mich besonders stark. Sie gaben mir neue Kraft, und neue Farben wurden durch sie geboren.
Dann meldeten sich Vorboten einer kommenden Freiheit des Schaffens. Jahre waren inzwischen vergangen, Jahre des Lernens und Experimentierens, der steten Unrast. Die Mischmalerei, mit der ich interessante Begegnungen hatte, offenbarte mir ihre Geheimnisse. Ich begann, mit diesen ganz andersgearteten Farben zu trommeln. Ich zog aus ihnen die feurige Glut des Tages und eine gesteigerte Produktivität. Manches Bild glich einem Schlachtfeld oder einer Operation, aber immer wieder taten sich mir dabei ganz neue Perspektiven auf.
Nach abstrakten und extremen Versuchen und nach wochenlangen Ruhepausen erschloss sich mir schließlich mit einer anderen Malweise eine neue Welt — der Surrealismus. Wieder lagen vor mir selig-glückliche Malerstunden. Aber ich konnte meine Phantasie nicht auf Lorbeeren ausruhen lassen. Es entstanden eigentümliche Gebilde und Verklärungen, die zuletzt in kleine, sehr farbige Skizzen mündeten. Diese Art von Bildern zeigte ich in keiner Ausstellung; denn ich suchte nach immer wieder neuen, anderen Formen. Das Betrachten dieser Farben und Formen gab mir einen großartigen Auftrieb zum Malen. In der Kunst mich zu offenbaren, bedeutete mir ein unsagbares Glück.
Die Mischtechnik wurde für mich dann Ausgangspunkt zu einer naturwüchsigen Veränderung meiner Gestaltung durch die Gouache. Sie eröffnete mir ein ganz neues Gesichtsfeld. Die Lebensgeister der Gouache-Malerei gaben mir entscheidende Spannungen und Kraftpotenzen. Ihre Farbwirkungen ließen in meinen Werken Gedanken zum Durchbruch kommen und mich immer neue Lösungsmöglichkeiten aufspüren und finden. Das Bild wurde jetzt zur einheitlichen Kraft und voller dramatischer Spannung. Ich konnte sämtliche Interessen in einem Raum vereinigen und pflegte diese Kunst mit besonderer Liebe und Sorgfalt.
Die ersten Experimente, mit Gouache-Farben auf sehr dünnem Japanpapier zu malen, waren Misserfolge und scheiterten kläglich. Jetzt merkte ich erst, wie unheimlich schwer es war. Diese Farben wehrten sich mit aller Kraft; denn das Japanpapier passte nicht zu ihrem Charakter. Beide bildeten schroffe Gegensätze. Aber ich liebte nun einmal den Kampf; denn es war mein fester Wille, diese beiden trotzigen widerspenstigen Elemente zu einer harmonischen Einheit zu verschmelzen. Bis heute war es ja auch in meinem Leben immer so. Trotz vieler Fehlschläge und größter Enttäuschungen ließen mein zäher Wille und eine unerschütterliche Energie mich stets als Sieger hervorgehen.
So entstand auch in meiner Malerei eines Tages ein ganz neues Werk voll starker Farbigkeit und von einer Kraft, wie ich sie nie zuvor geahnt hatte: Die vollendete Gouache voll Schönheit und Zauberkraft auf dünnem Japanpapier, der Spätexpressionismus als Fortsetzung der Kunst im zwanzigsten Jahrhundert. Von nun an verlebte ich besonders glückliche Stunden mit diesen Bildern, die in mir eine unwiderstehliche Anziehungskraft erweckten. Als die ersten Bilder auf dünnem Japanpapier entstanden, offenbarte sich mir der persönliche Charakter dieser flammenden Farben in ihrer ganzen Größe. Bis ich dahin gelangte, war ein weiter Weg.
Ober Gouache-Malerei
Gouache ist in Wasser gelöste Farbe. Sie ist seit vielen Jahrhunderten, wahrscheinlich schon aus ägyptischer Zeit, bekannt und spielt eine bedeutsame Rolle in der Wassermalerei. Sie rückt zwar ganz in die Nähe der Ölmalerei; jedoch ist ihr Charakter viel intimer. Gegenüber dem Aquarell gewinnt die Farbe in einer Gouache durch ihr von innen leuchtendes Spannungsverhältnis sehr stark an Gewicht. Diese einmalige geistige Leuchtkraft, die ich in jahrelangen Versuchen diesen Farben zu entreißen vermochte, macht sie dank ihrer suggestiven Farbreize anderen Techniken gleichwertig, vielfach sogar überlegen.
Mein Vorsatz, als ich zur Gouache-Malerei überging, war in erster Linie, in die Nähe der seelischen Leuchtkraft mittelalterlicher Glasmalerei zu gelangen, die mich schon immer so stark beeindruckt hatte. Viele Monate lang studierte ich, wo immer ich konnte, diese geheimnisvollen funkelnden Farben und gelangte schließlich zu der Erkenntnis, dass das Licht sie so dramatisch gestaltet. Dann begann ich meine Versuche, bei denen ich auf große Schwierigkeiten stieß. Gouache ist eine Farbe, der man keine Gewalt antun darf; sonst geht sie sofort in Opposition. Sie verlangt beim Gestalten eine bestimmte Menge Wasser. Feinstes Fingerspitzengefühl ist deshalb Voraussetzung, wenn man ihre Leuchtkraft noch erhöhen will.
Ich malte auf sehr dünnem Japanpapier, das relativ stark saugt. Das führt dazu, dass die Farben wegschlagen und der Farbsubstanz das Feuer genommen wird. Das Papier reagierte schlecht auf die aufgetragene Substanz und vernichtete zunächst jede aufkommende Bildmöglichkeit. Selbst kleinste Mengen von Wasser und Farbe waren zu schwer an Gewicht und konnten sich mit dem seidenartigen Papier nicht zusammenfinden. Die Bindung wollte mir zunächst einfach nicht gelingen. Das Japanpapier löste und verwandelte sich, so dass es unmöglich war weiterzumalen. Beim Auftrocknen waren nur noch schwache nebelartige Gebilde zu erkennen. War die aufgetragene Farbsubstanz zu schwer an Gewicht, machte sich zudem ein Reißen und Abblättern stark bemerkbar.
In meinen Versuchen, bei denen mir die Korrespondenz mit einem Chemiker und der Austausch unserer Erfahrungen weiterhalfen, kam ich schließlich dazu, durch Auflegen des dünnen Papierblattes auf eine vorbereitete Glasplatte die Farbe im durchwässerten Zustand auf der Oberfläche einzufangen. Dann vertiefte ich mich eingehend in die Struktur und den Charakter des Materials, sowohl des Papiers als auch der Gouache-Farben, um sie bis ins Kleinste kennenzulernen. Ich machte eingehende Versuche über die Saugfähigkeit des Papiers und die entstehende Sprödigkeit der Farbsubstanz, wobei mir meine jahrelangen Kenntnisse in der Aquarellmalerei zustatten kamen; bei ihr hatte ich schon sehr viel mit feinstem Original-Japanpapier gearbeitet. Mein Ziel hatte ich dabei klar vor Augen: Ich musste die gegenseitige Abneigung von Gouache und Japanpapier zu ergründen suchen und ins Gegenteil verkehren.
Bei meinen Malversuchen hatte sich als erschwerend erwiesen, dass das Japanpapier beim Abziehen von der Glasplatte allzu leicht riss. Ich fand bald heraus, dass die Temperaturen hier eine große Rolle spielen und Japanpapier nur eine bestimmte Temperatur beim Malen verträgt. Durch ein mehrmaliges Bewässerungssystem der Glasplatte hatte ich schließlich den Erfolg, dass sich das feine Papier beim Abziehen von der Platte willenlos meinen Händen fügte. Fast als Zugabe ergab sich dabei, dass ich dadurch auch die Farbschattierungen so lenken konnte, wie es meinen malerischen Absichten entsprach.
Aber immer noch hatte ich nicht den vollen Erfolg in Händen: Mein Ziel war, die innere Leuchtkraft der Farben zu erreichen in einer Kraft, wie ich sie in alten Glasfenstern erlebt hatte. Durch einen Zufall sollte ich auch hier zum Ziel gelangen. Eines Tages — ich vergesse es nie, es war ein sehr nebliger November-Morgen — trieb mich eine bis dahin nicht gekannte innere Unruhe zu neuen Versuchen. Dabei wurde ich plötzlich von einer Dunkelheit überrascht, so dass ich zu starkem künstlichen Licht gezwungen wurde. Nun hängen beim Malen mit Gouache-Farben die Farben geduldig und folgsam an den trockenen Pinselborsten. Sie warten auf ihren Einsatz und das Glück, mit ihnen eine Welt voller Leidenschaft zu gestalten — den leidenschaftlichen Rausch von Wetterleuchten, Abendlicht und Verklärungen zwischen Himmel und Erde.
An diesem Morgen nun fiel mir ein sonst kaum beachteter Pinsel in die Hände, den ich von einer Studienreise aus Frankreich mitgebracht hatte. Ich begann im gleißenden Licht zu malen — ohne jegliche bestimmte Vorstellung. Dabei traten plötzlich ganz klare Gebilde vor meinen Augen auf, deren Ruf ich meine Hand fast willenlos folgen ließ. Und ich merkte zu meinem inneren Entzücken, wie sich plötzlich Papier und Farben zu einer wundervollen Harmonie verschmolzen. Mir war, als ob elektrische Ströme durch meinen Körper jagten. Zug um Zug gelang —dann war alles auf einmal vorbei. Das Blatt ließ sich glatt von der Glasplatte abziehen. Ich hing das Blatt, ohne es zu betrachten, zum Trocknen auf die Leine. Als ich es am nächsten Morgen wieder auf die Glasplatte legte, war ich von der Wirkung, die sich mir bot, überrascht; aber trotzdem war ich noch nicht ganz zufrieden. Da kam mir der Gedanke, auch den Malgrund mit meinen bisher gemachten technischen Erfahrungen mit einzubeziehen. Ich versuchte ein neues Bild, und zum ersten Male hatte ich das Glück, was ich seit vielen Monaten ersehnte: Ich erreichte jene Verzauberung der Farben, die in einer atmosphärischen Weise funkeln und von innen heraus leuchten. Damit war mir das Zusammenführen der drei Elemente gelungen. Das Japanpapier, die Farbe und das Wasser waren von nun an meine glücklichen Kinder und dienten mir dazu, meine Welt der Bilder zu schaffen. Damit war ich nach so langen Versuchen, die mich oft fast hatten verzweifeln lassen, endlich in die Nähe der geistigen Schöpfung gelangt.
Die ersten Gouache-Bilder konnte ich natürlich nur auf kleinstem Raum gestalten, da sich das sehr empfindsame Japanpapier zu sehr mit der Glasplatte verband. Mich reizten bald auch größere Formate, die mir jedoch erst nach weiteren, außerordentlich schwierigen Versuchen gelangen.
Die übliche Regel beim Beginn eines Bildes, zuerst ein Gerüst zu zeichnen, ließ ich fallen und malte von nun an zeichnend mit den Farben. Ich folgte dabei meinem Gefühl, ohne eine bildhafte Vorstellung oder ein bestimmtes Motiv vor Augen zu haben. Die leidenschaftliche Farbenglut meiner Gouache und ihr Rhythmus rissen mich immer wieder fort, da sie den Vorzug vor dem Kompositionsgerüst genießen.
Fremde Länder — musikalische Inspiration
In dieser Zeit erlebte ich Italien, Frankreich, Spanien und Jugoslawien, worüber ich an anderer Stelle noch berichten will. Im Schatten malte ich Impressionen, aber immer wieder sehnte ich mich nach einem Ziel von starker farbiger Ausdruckskraft. Besuche verschiedenartiger Museen in diesen Ländern wirkten auf mich wie ein Anlauf zu neugestaltender Sehnsucht. Ich wollte den Sinn des Lebens malen, der alle meine Erwartungen übertraf. Fremdländische Tänze und Musik belebten meine Hoffnung, die Wunder-Herrlichkeiten des Himmels in Bilder zu bannen.
In dieser Schaffensperiode gab mir die Musik große Anregungen. Viele Bilder entstanden, während ich etwa Beethovens „Pastorale“ und „Schicksals-Symphonie“, Schuberts „Unvollendete“, Orgelmusik von Bach oder schließlich Wagners „Götterdämmerung“ und „Parsifal° hörte. Die Musik dieser starken Persönlichkeiten gab meinem malerischen Leben eine freie glückliche Ursprünglichkeit, die den nun anbrechenden Morgen meiner künstlerischen Gestaltungskraft offenbarte, den Spätexpressionismus.
Wie eine Offenbarung aus einer anderen Welt wirkte dazu auf mich das Erlebnis der Farben mittelalterlicher Kirchenfenster, zu deren Betrachten es mich beim Besuch von Salzburg und Rom, Limburg und Sorrent, Neapel und Florenz oder in meiner Heimat hinzog. Von hier flossen neue Kräfte in meine Gouache, die von ihnen nicht zu lösen sind.
Land — Meer — Himmel
Ich liebe das unendlich weite Land, das tanzende, stürmische Meer, den nie zu Ende gehenden Himmel, die ewig ziehenden Wolken und ihre stetig wechselnden Formen und phantasieanregenden Gestaltungen.
Beim Malen führen mich meine Gedanken in den Himmelsraum, zu den wundervollen vergeistigten Farben, gemischt aus Freude, Melancholie und Trauer. In den Wolken zeigt sich das Leben, das Leben der Unvergänglichkeit; sie lassen vorher nie geahnte malerische Bilder in mir aufsteigen und schenken durch ihren Bewegungsrausch meiner Seele die Kraft zur malerischen Gestaltung.
Es ist für mich ein unvergessliches Schauspiel, dem Rhythmus der Meereswellen zu lauschen — wie sie anrollen, ansteigen und sich überschlagen, um wieder nach dem Gesetz des Kosmos zu verebben. Schon in meiner Kindheit war es für mich eine unbeschreibliche Freude und ein starkes Erlebnis zugleich, mich stundenlang am Meer aufzuhalten.
Heimat Niederrhein
Immer wieder reizt und fesselt mich aber die unendliche Weite und Schönheit meiner geliebten niederrheinischen Heimat mit all ihren von meinen Maleraugen entdeckten zauberhaften seelischen und göttlichen Farben. Die großen Formen meiner Werke sind nur am Niederrhein entstanden, in jener Landschaft, in der ich geboren bin und die zu beobachten und zu deuten zum Inhalt meines ganzen Lebens geworden ist.
Einige meiner Kollegen aus Süddeutschland sahen am Niederrhein keine Farbe. Sie fanden alles grau in grau. Mir dagegen strömt hier immer erneut die Kraft zu meinen Formen zu. Hier endlich konnte ich nach langem Suchen in vielen Ländern der Welt meine Farbkraft zu neuer Entfaltung steigern.
In meiner niederrheinischen Heimat erfuhr ich auch die musikalische Ausbildung meiner Palette und konnte so die Erbschaft meiner Vorfahren zu einem internationalen Chor vereinen. Hier fand ich den Taktstock, die Magie zu meinen Orchester-Instrumenten. Hier erlebte ich das allererste Frührot meines Herzens.
Die festlichen Naturstimmungen mit ihrem feierlichen Gesang und ihren lieblichen Stimmen brachten meine künstlerische Phantasie zur vollen Entfaltung. Der Niederrhein wurde mir zu einem symphonischen Gemälde, zu einem kraftvollen Volkstanz mit nationaler Tradition. Das Plätschern der Bäche, das Spiel des Windes mit den Bäumen, der träumende Flusslauf, das Fließen in die Ferne und die Melodien dieser Landschaft mit ihrer Jahrtausende alten Vergangenheit — sie alle erweckten in mir ein neues Bild voll großartiger Schönheit — majestätisch, romantisch und lebensfroh. So erfüllte sich mein Werk mit neuem Leben, so öffnete sich mir der Blick in das Unendliche, den ich mit aller Kraft auszudrücken mich seither bemühe.
über Spätexpressionismus
Was wäre unsere Welt ohne Licht und Farbe! Sie wäre grau und eintönig; denn ohne das wundervolle Licht gäbe es keine Farbigkeit.
Der Spätexpressionismus ist eine faszinierende Wiederentdeckung der Farben, denen er tönendes Leben gibt. Geboren aus dem Expressionismus ist er ein eigenständiger Nachklang dieser Kunstrichtung, die er in der Sprache der Gegenwart vollendet. Flammende Farben, angeregt von den Gemälden unvergänglicher alter Meister sowie von den Experimenten großer Farbkünstler, brachten diesen gewaltigen Farbenrausch zur Entfaltung mit all seinem Glanz und Klang, wie sie einem bezaubernden Baumeister zur Verfügung stehen.
Die Geburt dieses farbenfrohen und lebendigen Spätexpressionismus strahlt den Glanz einer reifen Umwälzung. Bei ihr entwickelte sich aus dem bereits abgeschlossenen Expressionismus eine weitere klassische Form, die heute bereits Allgemeingut geworden ist. Es ist ein vollständig neues Bild, das sich der Welt durch die Öffnung dieses zweiten Vorhangs als glückliche Weitergestaltung offenbart. Der Spätexpressionismus ist wie ein entzückender Sommernachtstraum, der zum erstenmal aufgeführt wird und die Menschen ermutigt, erträumte, bisher jedoch vergeblich gesuchte Kunstwerke nun in Wirklichkeit zu erleben. Diese schöpferische Gestaltung zählt zu den großartigen geistsprühenden Leistungen unserer Epoche. Aus dem Expressionismus hat sich eine neue gewaltige Kraft entwickelt und im Spätexpressionismus ihren Höhepunkt erreicht.
Spätexpressionismus lebt aus altüberlieferten geistigen Farbenschalen. Er lässt seelisch geformte Kunstwerke in den Händen begabter Naturen entstehen. Sie erhellen unsere Herzen. Diese Kunst ist und bleibt in der besten Tradition vieler Jahrhunderte europäischer Kunst. Sie besitzt den Stil der ewig blühenden Jugend. Beruhigend und anregend zugleich, offenbart sie die geheimnisvolle Schönheit der allmächtigen Natur — gewaltige Kunstwerke, auf die einfachste Form gebracht und doch von vollendeter Meisterschaft. Deshalb bin ich ganz gefangen von den der Natur abgelauschten Bildern der alten Meister, die den Atem unserer Welt und das Geheimnis ihrer Zeit in ihren Darstellungen einfingen. Sie haben die geistige Glückseligkeit in irdisches Glück verwandelt und somit der Welt ein Lichtbild für ewige Zeiten übermittelt.
Der Expressionismus überwindet extreme Kunstdarstellung, weil diese im Experiment stecken bleibt, um schließlich im Uferlosen zu versanden. Der Weg des kaltberechneten Experiments hat nichts vom Tempel der schönen Künste. Kunstempfindsame und kunstbegabte Menschen knien nicht vor diesen Gebilden wie vor der „Nachtwache“ eines Rembrandt, der mit seinen unvergänglichen Werken für ewig die ganze Welt beseelt. Extreme Darstellungen sind wie eine hölzerne Barriere, die keine Sonnenwärme und geistige Kraft ausstrahlt; sie sind keine anregende entspannende Erholung, sondern wirken — da sie künstliche Gebilde sind — wie Automaten.
Vorgetäuschte Wirklichkeiten wirken nicht überzeugend und verhelfen nicht zu einem neuen Durchbruch in der Kunst. Nur echte Symbole überzeugen und erweisen sich als wahrhaft und unverwundbar; denn sie sind aus der Geistes- und Gefühlsverwandtschaft der Wirklichkeit geboren. Spielerische Raffinessen, wenn auch mit handwerklichem Können verbunden, träumen zwar von einer märchenhaften Karriere. Sie haben aber nicht die hohe schöpferische Gabe eines intuitiv schaffenden Künstlers. Neue Kunstrichtungen kommen und gehen, werden gefördert und als wegweisend gepriesen — aber wenn ihre Zeit abgelaufen ist, gehen sie unter. Man kann diesen Vorgang mit dem natürlichen Zerfall gewisser Elemente in der Natur vergleichen. Aber die wunderbaren geistigen Urgründe der Kunst bleiben von ewigem Bestand.
Ich verabscheue farblose tote Malerei; denn sie gibt dem Menschen unserer Tage keine wahre Lebensfreude. Sie ist vielmehr wie eine spukhafte Verspottung und symbolisiert den Irrealismus, sie atmet keine reine Luft und strahlt keine farbige klassische Schönheit aus. Der sinnenfrohe Mensch aber erstrebt eine farbige, geistreich geformte Welt der Kunst. Er sucht den Weg der Wirklichkeit, der über den grauen Alltag hinausführt. Farblose Nüchternheit ist verstaubt und lustlos, ihr fehlt die Kraft zur Romantik, zur Illusion und Phantastik.
Farben und Formen
Wie im Leben wechseln auch in meiner Malerei die Perioden. Jede neue kehrt einer früheren Geburt den Rücken, um die ihr vorschwebende neue musikalische Ausdruckskraft zu erreichen. Die dabei entstehenden Kräfte versuchen durch das Mit- und Gegenspiel in der Schöpfung die Vergeistigung eines gewaltigen Orchesters zu bewirken. Meine Bilder sind keine Nachahmungen der Natur. Sie sind Versuche, in die Allgewalt der Schöpfung einzudringen. Heute male ich impulsiv und bin begeistert — aber morgen verdichtet und vergeistigt sich die künstlerische Gestaltung. Kein Erlebnis gleicht dem anderen; jedes neugeborene Werk hat andere Rhythmen, die sich zu anderen Akkorden vereinigen. Zuweilen vermuteter Einfluss anderer Maler, der dem Betrachter auf den ersten Blick epigonisch erscheint, ist reiner Zufall. Meistens ist er nur logischer Ausfluss einer engen geistigen Verwandtschaft, die trotzdem zur durchaus eigenständigen Weiterentwicklung der Handschrift einer ganzen Kunstrichtung führt.
Zur schöpferischen Gestaltung gehört eine persönliche Weltanschauung, die von vornherein zu berechnende Effekte ausschaltet. Das wahre Kunstwerk hat keinerlei Beziehungen zu diesen gefahrvollen Gefährten. Beim Vorherrschen solcher Effekt-Elemente würde diese unter so vielen Schmerzen geborene echte Kunst erlöschen. Ich habe ohne große Verluste an malerischer Substanz in sehr vielen Handschriften meine Werke gemalt. Immer-währendes Suchen brachte mir die Freiheit dieses späten Ausdrucks voll Romantik mit den geist-mächtigen Farben, die schon auf den ersten Blick ein ständiges Ringen um Formen und Farben zeigen und in das rätselhafte große Geheimnis der allgewaltigen Schöpfung einzudringen suchen. Diese Bilder atmen die große Welt der wundervollen Farben des Spätexpressionismus. Sie sind das Echo eines ernsten Malerlebens und zeigen den Durchbruch in eine kosmische Landschaft.
Ich will mich bemühen, dem Menschen unserer Zeit die Kunst in ihrer vollen Fülle und Reinheit so zu verkünden, dass sie von ihm verstanden und bereitwillig aufgenommen wird. Alle meine Gedanken und mich selbst will ich in meinen Bildern sichtbar werden lassen, damit das Kunstwerk in allen Herzen aufleuchtet als Widerschein der einmalig herrlichen Schöpfung. In meiner Malerei will ich kein seelenloses Farbengewirr, sondern eine Kunst schaffen, die alle Menschen durch Schönheit und Harmonie glücklich macht — durch leuchtende Farben, welche die Seele aufhellen und selbst wie Kristalle leuchten. Denn diese festlichen Farben bedeuten den Pulsschlag, das Element unseres irdischen Lebens.
Das Kunstwerk öffnet weit die Tore aus diesem Irdischen und hebt uns empor zum Morgenglanz der Ewigkeit. Es ist wie ein Sonnenaufgang, der durch sein wundervolles farbiges Licht die Schatten unserer Erde erleuchtet und aufhebt. Im echten Kunstwerk formen sich Ebenbild und Kraft der Natur. Ihr treibendes Licht spendet Wärme und gibt dem Künstler die Freiheit des Herrschens, um mit gläubigem Herzen die Urkräfte zu bewegen und zu formen. Der Himmel wird dabei nicht von der Erde getrennt; denn beide — die Sphären des Geistes und dieser Welt — sind in ihrer reichen Vielfalt zu einem Wesen verbunden. So entsteht die dienende Kraft des Malers, die Visitenkarte seines Charakters — jene Kunst, in der sich menschliche Bescheidenheit und künstlerischer Anspruch zum Erfolg begegnen. Denn Kunst ist nicht da als Glück des Einzelnen, sondern dient der ganzen Menschheit. Ich freue mich, meine geistigen und körperlichen Kräfte voll anspannen und durch mein Werk einen neuen Grundstein setzen zu können. Deshalb lebe ich in meiner Kunst. Die Sorge um sie ist der Inhalt meines Lebens. Dieses Wirken ist zwar schwer, hat dafür aber hoffnungsvolle und schöne Eigenschaften, die jedem unter Schmerzen geschaffenen Werk einen nachhaltigen unverlierbaren Klang verleihen.
Spiegelbild der Epochen
Begabung und Farben formen als Komponenten wesentlich die Gestalt des Künstlers. Sie verbinden sich zu einer ungetrübten Seelenfreundschaft und bilden eine gemeinsame Brücke zur künstlerischen Begegnung mit der Schöpfung.
Die Farben bleiben in der Malerei stets die gestaltende Kraft. Man erkennt an ihnen Entwicklungsabschnitte des Malers und künstlerische Reife. Die organisierende Kraft der Farben verleiht dem Kunstwerk erst jene in sich ruhende souveräne Monumentalität von unbeschreiblichem Zauber, der jeden bannt — einmal sind sie von lieblicher Weichheit und Sinnlichkeit, von lyrischer Zartheit und Poesie, ein andermal wie mit leichter Hand geschriebene Mitteilungen voll Kraft und Schönheit.
Das seelische Gestalten in der Kunst ist etwas Unbegreifbares und Geheimnisvolles; denn dramatische Spannungen erhalten im Bild ihren vollkommenen Ausklang. So strömt jedes echte Kunstwerk trotz seiner temperamentvollen eigenwilligen Handschrift Wärme und Ruhe zugleich aus. Dabei liegt oft schon in der Zusammenstellung der Farben auf der Leinwand der eigentümliche Anreiz zur Auseinandersetzung mit ihm begründet. Denn das echte Kunstwerk, aus dem inneren Freiheitsempfinden seines Schöpfers zur eigenen Sprache geboren, soll den Menschen zum Denken und Verstehen anregen. Es kann bedrohend und erschreckend, heiter und tröstend, ja heilend auf den Menschen wirken. Wenn er versteht, den inneren Wesensgehalt des Werkes zu erlauschen und in sich aufzunehmen, erlebt er das Gefühl einer großen künstlerischen Harmonie.
Kunstwerke sind Paraphen des Persönlichen. Deshalb spricht jedes Bild die ureigene Sprache des Künstlers —auch jenseits der gangbaren Kunstformen und Kunstrichtungen der Epoche, in der er lebt. Zwar wachsen und entfalten sich malerische Schöpfungen aus dem Erbe der Vergangenheit und sind so als Frucht des Geistes das natürliche Spiegelbild von Epochen. Aber jedes echt künstlerische Werk zeigt des Künstlers eigenes Leben, das hinaufführt zum Gipfel der Unvergänglichkeit über Raum und Zeit hinweg. Aufrichtige Bewunderung findet ein Talent ja nur selten; und erst nach dem Tode beginnt des Künstlers Werk den Ruhm zu ernten, der dem Künstler selbst zu Lebzeiten meistens nicht vergönnt ist.
Die Sturm- und Drangperioden hinterlassen einen unverwischbaren Eindruck. Sie sind eigentlich — von magischen Formen, voll Fruchtbarkeit und Spannung erfüllt — notwendige Vorstufen zu echter Leistung. Berufung, stark ausgeprägte künstlerische Eigenschaften und Schönheitssinn sind eng miteinander verbundene individuelle Aspekte, die einen gemeinsamen geistigen Ursprung haben. Sie erfordern schöpferische Fähigkeiten und verlangen neben der Beherrschung der verschiedenen Techniken eine tief im Innern verwurzelte göttliche Berufung, vollkommene Aufopferung an das Werk sowie starke philosophische Erkenntnisse, die aus der Erfahrung tiefer seelischer Erlebnisse stammen. Nur große Geduld und Hingabefähigkeit führen zur persönlichen Note in der Kunst, dem höchsten Ziel jedes Künstlers. Ein Kunstwerk wird nicht aus Berechnung und Raffinesse entstehen, sondern aus der Phantasietiefe der menschlichen Seele geboren — es ist eine lebendige, dramatische, farbige Wirklichkeit, die überzeugend wirkt und niemals, auch nicht durch andere sogenannte Stilrichtungen ausgelöscht werden kann. Es ist traditionsgebunden für alle Zeit.
Der Künstler diskutiert nicht nur in seiner Kunst, er improvisiert und deklamiert, er skizziert und musiziert. Das sind die Grundsteine eines Kunstwerks, die wie Zauberflöten und Märchendramen bis in die feinsten Regungen hinein das Geistesleben des Regisseurs in Harmonie mit seiner Epoche und mit ihren Menschen überzeugend in Kontakt bringen.
In der Malerei spiegelt sich die Urkraft und Lebensfreude des Schöpfers, der mit den Farben Frucht und Fülle wiedergibt und durch leidenschaftlich glühende, gesteigerte Formen das Göttliche im Menschen verherrlicht. Farben sind wie ein Echo. Sie müssen aufeinander antworten und auch im Bild ihre Ursprünglichkeit und Frische bewahren. Das Licht verzaubert die Farben; sie leuchten aus der Tiefe, gewinnen an Bedeutung und strahlen lautlos den Hauch glücklichster Gestaltungskraft.
Gemalte Musik
Glühende Farben erzeugen gewaltige musikalische Akkorde. Im Wechselspiel bilden sie Formen neuer geistiger Kompositionen. Dieser schwingende, feurig-farbige Rhythmus gibt eine kunstverstärkende Freiheit, Frische, Spannung und jugendliche Kraft und lässt das Werk zum machtvollen Erlebnis werden. Malerei und Musik haben für mich stets die gleiche Suggestion. Die Farben und Formen bedeuten mir tönende Musikinstrumente, die sich auf der Leinwand zum Symbol vereinen. Daher kann ernste Musik meine Gestaltungskraft anregen und verstärken. Gemalte Musik ist gereift durch seelische Empfindungen, durch Schmerzen und Enttäuschungen, Leiden, Freuden und Lebenserfahrung. Sie wird dadurch zu einer klingenden und schicksalhaften dämonischen Malerei. Der musikalische Farbeindruck eines Bildes regt die eigenen Gedankenflüge eines Betrachters an und öffnet ihm den Zugang zur Farbsymphonie des Künstlers.
Ein Kunstwerk kann man niemals erklären genau so wenig wie die Phasen künstlerischen Schaffens, weil die aus dem Innern kommenden Farbsymphonien unergründlich sind wie die Schöpfung selbst. Diese phantastischen Farben geben stets das große Erlebnis des Künstlers wieder und deuten seine geistige Haltung. Meine Werke sind eine Darstellung in farbigen Tönen, die sich zur symphonischen Form vereinigen. Diese malerischen Deutungen bergen das große, nie zu entziffernde Geheimnis der Seele — ein Künstlerleben mit seinen Höhen und Tiefen, eine Autobiographie in klingenden Farben.
Das Suchen in der Malerei ist ein steter Wechsel, ein ewiges Auf und Nieder, das dem Wellenschlag des Meeres gleicht — einmal ganz hoch oben, fast im gleichen Augenblick der Gegensatz, der Sturz in die Tiefe; einmal die Freude und daneben das Wegspülen von Hoffnungen. Im Bild zeigt sich die vollständige Überwindung seelischen Leids.
Erlebte Erschütterungen erst führen zu künstlerischer Tiefe. Man muss erdulden und hinnehmen, um den Farben persönliches Leben geben zu können. Der dadurch entstehende klingende Bericht überträgt das Erlebnis einem künstlerisch empfindenden Betrachter, der diese Symphonie in sich aufnimmt, selbst weiter formt und zum unvergesslichen Eindruck seiner Seele werden lässt. Ein verantwortungsvoller Künstler muss Optimist sein — auch in Zeiten der Rückschläge. Er muss eine starke, unbeirrbare Kraft und einen unerschütterlichen Glauben an sich selbst besitzen. Seelenfrieden und materielle Sicherheit bedeuten für ihn, wenn er wirklich der Kunst dient, nicht das Höchste. Der wahre Künstler, der aus innerem Drang gestaltet, steht bescheiden im Schatten dieser Welt.
Begegnungen
Herbert Eulenberg
Ein mir bekannter, sehr begabter Maler, mit dem ich oft im Freien skizzierte, erhielt Mitte der dreißiger Jahre den damals nicht ungefährlichen Auftrag, den bekannten rheinischen Dichter Herbert Eulenberg zu malen. Denn Eulenberg, der vorher bereits von mehreren bedeutenden Malern porträtiert worden war, lebte mit den Kulturpäpsten des Dritten Reiches schon seit längerer Zeit in Unfrieden.
Der Maler schimpfte und donnerte stets, wenn er zu solchen Sitzungen nach Düsseldorf fuhr. Und doch gelang es ihm — zwar nach sehr vielen Vorstudien —, von Herbert Eulenberg ein wundervolles Bild zu schaffen, das die ganze Tiefe dieses großen Geistes voll zum Leuchten brachte. Dieses Bild war so lebendig dargestellt, auch sehr schön farbig, dass es allseits Hochschätzung und Bewunderung fand.
An manchen Abenden, wenn ich mit dem Maler zusammensaß, erzählte er mir von den Eigenarten des Dichter und von seinem öffentlich kaum noch zugänglichen Werk, so dass in mir der Wunsch erwachte, diesen interessanten Mann selbst kennenzulernen. Dieser Wunsch sollte — zwar nicht auf eine Einladung hin, sondern auf einem gänzlich anderen, viel einfacheren Weg — in Erfüllung gehen.
Vom damaligen Künstlerbund war ich aufgefordert worden, für eine Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle einige Bilder einzureichen. Es war schon während des letzten Krieges. Ich war sehr erstaunt über diese Einladung, da man mich seit langem ablehnte, und wunderte mich deshalb auch nicht, dass meine eingereichten Werke dann nicht angenommen wurden, weil sie — wie es verschämt wieder einmal hieß — nicht in den Rahmen dieser Ausstellung passten. Ich fuhr, auch wenn von mir selbst nichts vertreten war, trotzdem nach Düsseldorf, um mir die Kunstausstellung anzusehen.
In der Kunsthalle fiel mir beim Betrachten der Bilder ein Herr mit Stutzer und mächtiger Mähne auf, der —vor sich hinschimpfend — von einem Saal zum anderen ging. Er schimpfte, ohne sich dabei durch meine Gegenwart oder andere Besucher stören zu lassen. Vor einem Bild sprach er mich dann an und fragte: „Haben Sie in diesen heiligen Hallen etwa auch ausgestellt?“ Ich konnte ihm wahrheitsgemäß nur erwidern, eingereicht hätte ich schon einige Bilder, aber ich könnte keines von ihnen finden. Und ohne ihn zu kennen, fügte ich hinzu: „Das geht mir seit Jahren fast immer so — immer Ablehnung.“ Worauf er antwortete, was mich durch die Offenheit erstaunte und später, als ich seinen Namen erfuhr, nicht wenig stolz sein ließ: „Dann können Sie auch wirklich malen! Auf solche Ablehnung können Sie nur stolz sein. Ihre Bilder stehen gewiss im Keller dieser Kunsthalle. Ja, so ist es“ — setzte er zum Schluss, fast zu sich selbst sprechend, noch hinzu — „der Geist steht im Keller und der Dreck hängt an der Wand.“
Das war meine erste Begegnung mit Herbert Eulenberg in Düsseldorf. Später habe ich ihn dann noch einige Male in Ausstellungen gesehen; aber er sagte mir immer wieder dasselbe, wenn wir miteinander sprachen.
Werner Gilles
Während meiner Studienzeit hörte ich aus dem Munde einiger Maler sehr oft den Namen Werner Gilles. Ich selbst kannte ihn nicht, hatte aber den innigen Wunsch, seine Bekanntschaft zu machen. Ein mir nahestehender Künstler war mit ihm eng befreundet, zumal sie beide gemeinsam auf der Düsseldorfer Kunstakademie studiert hatten. Er erzählte mir auch, zusammen mit Gilles habe er auf einer Burg in Süddeutschland gemalt. Gilles sei ein sehr ernsthafter Künstler, der in seiner Malerei vollständig aufgehe.
Eines Tages, Mitte der dreißiger Jahre, wurde ich durch den Künstlerbund aufgefordert, mich mit einigen Arbeiten an einer Gemeinschaftsausstellung im Essener Folkwang-Museum zu beteiligen. Ich brachte die Bilder selbst von Duisburg nach Essen. Als ich sie ausgepackt und provisorisch an die Wand gestellt hatte, fragte mich jemand, ob ich der Maler dieser Bilder sei. Ich bejahte, ohne zu wissen, wer dieser Mann war. Er verhehlte mir gegenüber nicht, dass er von meinen Bildern stark beeindruckt sei, vor allem von meiner Farbigkeit und malerischen Auffassung. Wir sprachen lange miteinander — ruhig und ernst. Spontan fragte er mich, ob ich daran interessiert sei, einer neu zu gründenden kleinen Gruppe von Künstlern beizutreten. „Dann sind wir schon mit drei Malern dabei“, meinte er, „und ich glaube, wir haben bestimmt Erfolg.“ Dabei erst stellte er sich mir vor: Es war Werner Gilles.
Ich war freudig überrascht, ihn an diesem Tag endlich kennenzulernen. Den ganzen Tag blieben wir zusammen, schwärmten, hofften und schmiedeten Zukunftspläne, bei denen mich seine reiche künstlerische Phantasie überraschte. Abends verabschiedeten wir uns und verabredeten ein Wiedersehen, das auch einige Zeit später —wiederum in Essen — stattfand.
Gilles war mir während dieser Tage zum Freund geworden. Aber dann wurde ich ernstlich krank und kehrte Duisburg für längere Zeit den Rücken. Nach meiner Genesung fand ich leider keine Gelegenheit mehr, mit Gilles zusammenzutreffen. Wir verloren uns bald ganz aus den Augen, zumal inzwischen der Krieg ausgebrochen war und ich als Soldat eingezogen wurde. Mich selbst überkam damals die große Einsamkeit. Ich suchte — im grauen Soldatenrock — vergeblich die schöpferische Stunde, aber mein Leben bestand nur noch aus Hoffnung. Die große Leidenschaft, Bilder zu gestalten, kam nicht zum Ausdruck; mir fehlte damals einfach die Kraft.
Maurice de Vlaminck
Zweier Maler möchte ich an dieser Stelle gedenken, deren Werken ich viele künstlerische Offenbarungen verdanke: des französischen Malers Maurice de Vlaminck und des Professors Hans Purrmann.
Nachdem ich das Werk von Maurice de Vlaminck schon lange kannte und schätzte, kam ich Mitte der fünfziger Jahre auch mit ihm selbst in Verbindung. Seine ungewöhnlichen Farben voll Seeleninhalts öffneten mir einen ganz neuen Weg. Die Bekanntschaft mit Vlaminck empfand ich als göttliches Geschenk. Der große Franzose ehrte mich nicht nur mit Originalen von seiner Hand, er übermittelte mir auch den Seeleninhalt seines großen menschlichen Charakters. Ein meiner Frau verehrtes Selbstbildnis wirkt auf mich wie wohltuende Sonnenstrahlen. Mit herzlichen Grüßen bedankte er sich für diese Glückwunschadresse, die ich ihm zu seinem achtzigsten Geburtstag geschickt hatte:
Maurice de Vlaminck dem großen Freund und Maler zum
achtzigsten Geburtstag gewidmet
Großer Meister!
Zurückgezogen leben Sie auf Ihrem Landsitz.
Ihr Wesen ist verankert mit der Natur.
Die Menschen freuen sich an Ihrem Evangelium,
das sie künden in alle Welt.
Es klingt wie Musik aus Ihrem Herzen,
Sie schöpfen mit großer Ausdruckskraft Selbst im hohen Alter.
Mit unverminderter Frische
Gestalten Sie unvergängliche Werke.
Jedes ihrer Bilder ist ein Liebesgedicht.
Geistvoll, sympathisch Ihr Gesicht;
Sogar Tiere müssen Sie lieben
Und wie sehr erst Ihre Familie, Ihre Kinder!
Sie lieben Pfeifen, Flaschen, Blumen
Das gelbe Korn, Ihre Scholle,
Den blauen Himmel, grüne Wälder,
Den warmen Ofen und den Schnee.
Sonnig ist Ihr Wesen.
wie der frische Sommertag.
Die Welt ist für Sie ewig neu.
Trotz Reife sind Sie noch voll Jugendkraft.
Ihnen schenkt jeder Tag ein neues Glück.
Ihre Heimat lebt in ihren Werken
Sie sind unvergänglich
Wie der Stern am Himmelszelt!
.
Inzwischen ist — wie Gilles — auch Vlaminck, der mir in der Farbigkeit seiner Himmel viele Anregungen zu eigenen Experimenten gab, heimgegangen; aber seine große Seele wirkt weiter befruchtend auf mein Werk.
Bei Professor Purrmann in Montagnola
Professor Hans Purrmann, dessen Bilder voll farbiger Seelenschönheit ich verehre, brachte mich auf beglückende neue Versuche, zumal er im Charakter seiner Arbeiten viel Ähnlichkeit mit Vlaminck hat. Sowohl seine bezaubernde sonnenhafte Farbigkeit als auch er selbst als Mensch bedeuten für mich einen starken Ansporn.
Der persönliche Freund von Henri Matisse, der mit ihm der Welt unvergängliche Werke schenkte, schrieb mir am 30. Dezember 1961 aus Montagnola, nachdem er meine von dem Kunsthistoriker Helmut Gernsheim geschriebene erste Biographie kennengelernt hatte, er bewundere meine „farbenkräftige Ausdrucksfähigkeit und Kraft“. Wenig später versicherte er mich herzlich „der Hochschätzung, die ich für Ihre Arbeit und Kunst habe“.
Ende 1963 habe ich das große Glück, Professor Purrmann in Montagnola kennenzulernen. Ich hatte den Auftrag, in Lugano einige Motive zu malen, und deshalb bei Professor Purrmann angefragt, ob ihm mein Besuch angenehm sei. Sehr beglückt war ich, als ich seine Zusage dann in Händen hielt. „Leider bin ich in denkbar schlechter gesundheitlicher Verfassung“, schrieb mir Professor Purrmann. „Die Ärzte haben mich mit großer Mühe von Fieberanfällen befreit. Aber mit meiner Arbeit ist noch nicht viel los, und es treibt mich auch gar nicht dazu, weil mein Atelier dunkel ist, der Tessin sich jetzt regnerisch, neblig und trüb zeigt und damit wahrscheinlich den Winter einleitet, der gewöhnlich hell, klar und schön im Tessin ist. Hoffentlich können Sie dann Ihre Aufgabe, hier etwas zu malen, gut erledigen. Wenn Sie mich anrufen würden, hoffe ich, dass die Ärzte mir erlauben werden, was sie bis heute noch nicht getan haben, Besuche zu empfangen; denn es würde mir doch sehr daran gelegen sein, Sie kennenzulernen und zu sehen.“
Einige Tage vor Weihnachten treffe ich in Lugano ein. Es ist ein sehr sonnenreicher Tag, im Gegensatz zu unserem Klima, das jetzt kalt und feucht ist. Quartier finde ich in einem kleinen aparten Hotel im Zentrum der Stadt. Der Blick aus meinem Fenster geht auf eine sehr gepflegte Parkanlage, die eine abstrakte Plastik schmückt. Im Hintergrund die Berge, die Gipfel mit Schnee bedeckt — ein bezaubernder Anblick, den zu malen es mich reizt. Beim zweiten Anruf in Montagnola kommt der Professor selbst an den Apparat. Er freut sich, heißt mich im Tessin willkommen und erkundigt sich sehr eingehend, ob ich auch gut untergebracht wäre und wie es mir gefalle. Dann ladet er mich zu Sonntag zu sich ein. „Fahren Sie am besten mit dem Postbus“, sagt er zum Abschied. „Wo ich wohne, kann Ihnen jeder sagen; es ist auch sehr leicht zu finden.“
Punkt fünfzehn Uhr fahre ich dann mit dem Postauto nach Montagnola. Es geht immer bergauf. Eine herrliche Landschaft von einer wundervollen Struktur, die Bergspitzen allesamt mit Schnee bedeckt. Als ich von Lugano abfuhr, war dort starker Sonnenschein. Nach nur halbstündiger Fahrt in Montagnola angekommen, schneit es. Als erstes fällt mir ein riesengroßer Tannenbaum ins Auge. Er strahlt mit großen, in allen Farben schillernden Weihnachtskugeln — ein herrlicher Anblick. Linker Hand befindet sich ein Cafe. Dort frage ich nach Professor Purrmanns Wohnsitz. Man kennt ihn hier selbstverständlich sehr gut, und man beschreibt mir auch den Weg dorthin ganz genau. Gleichzeitig bedauert man nur, dass man den Herrn Professor in letzter Zeit nicht mehr im Ort sehe.
Ich gehe wie geheißen die Straße entlang, dann unter einen Bogen durch und stehe, nur etwas leicht ansteigend, nach hundert Meter vor einem großen alten Gebäude, aus dessen Mitte ein hoher heller Turm mit prächtiger Wetterfahne emporragt. Einen romantischen bezaubernden Anblick bietet diese alte Residenz. Das weiße Gebäude hebt sich sehr malerisch, fast märchenhaft, gegen den dunkelblauen Himmel und die Berge ringsum ab. Vor dem Haus stehen alte knorrige Bäume und zeigen mit ihren Ästen gen Himmel, als würden sie Finger ausstrecken. Ich habe den Eindruck, als stehe ich vor einem verlassenen Zauberschloss. Die Fensterläden sind fast alle geschlossen. Kein Mensch ist zu sehen, nicht das geringste rührt sich. Alles ist so geheimnisvoll stumm. Das also ist Professor Purrmanns Domizil. Hier entstehen seine zauberhaften Bilder, denke ich.
Für die vorgesehene Besuchsstunde ist es hohe Zeit, wie mir ein Blick auf die Uhr zeigt. Das Schloss hat eine ganze Reihe von Türen, aber nirgends sehe ich ein Schild mit dem Namen Purrmann. Ich beginne zu suchen, finde aber keinen Eingang. Schließlich öffne ich eine kleine Pforte, es kommt eine zweite, und dann stehe ich in einem kleinen Vorraum vor einer dunklen Tür. Dort leuchtet mir ein Messingschild entgegen mit der Schrift: „Bitte kein Atelierbesuch.“ Im Vorderhaus entdecke ich schließlich eine kleine Schelle und klingele. Nach einer Weile streckt ein junger Mann sein Gesicht durch die Tür, aber ich verstehe ihn nicht. Er ruft dann „Mama“. Und nach wenigen Minuten kommt eine Frau — wie sich herausstellt die Mutter des jungen Mannes — und führt mich dann endlich zu Professor Purrmanns Tür, vor der ich — wie ich jetzt merke — vorhin bereits gestanden hatte. Ich bedanke mich bei ihr.
Da sehe ich auch die kleine Klingel und drücke auf sie, voller Spannung im Herzen. Dann wird geöffnet. Vor mir steht eine kleine Frau, die mich in italienisch anspricht, so dass ich wiederum nicht verstehe, was sie sagt. Ich kann ihr also nur meinen Namen sagen. Da lacht sie und sagt: „A Signore Calmes — prego, prego, Professore Purrmann.“ Ich lege Mantel und Hut ab, aber als ich meinen Mantel an der Garderobe aufhängen will, fällt er plötzlich zu Boden; der Aufhänger ist gerissen. Ich nehme es als gutes Omen und trete beherzt in einen großen Raum, zu dem mir die Frau die Tür geöffnet hat.
An allen Wänden hängen Bilder, auf den Tischen stehen Plastiken, Masken und Vasen. Professor Purrmann sitzt im Sessel vor einem großen Tisch. Vor ihm liegt ein geöffnetes Buch — wie ich sehe mit farbigen Reproduktionen, in deren Betrachtung er vertieft ist. Auf dem Tisch Bücher, das Foto eines Kindes und zur linken Tischseite zwei Vasen mit herrlichen Blumen. Der Professor trägt ein weißes Wollhemd und eine hellgraue Weste. Sein kleiner weißer Bart ist sehr gepflegt, sein rundes Gesicht voll und rosig. Als er mich sieht, heißt er mich sofort in seiner liebenswerten Art herzlich willkommen im Tessin und stellt mich einer charmanten Dame vor, seiner Sekretärin.
Dann bietet er mir einen Platz neben sich auf dem Sofa an und reicht mir zum Willkommen einen Birnenschnaps, der vorzüglich mundet. Und sofort überrascht er mich auch schon mit Fragen, ob ich in Lugano auch wirklich gut untergebracht und zufrieden sei. Und nach einer kurzen Pause: „Wie gefällt Ihnen der Tessin? Haben Sie schon gemalt? Wie machen Sie das bei diesem winterlichen Wetter? Malen Sie draußen? Im Augenblick ist ja wenig Farbe zu sehen, und bei diesem manchmal nebligen Wetter können Sie ja auch nicht weit blicken.“ Ich würde meine Eindrücke mit farbigen Stiften festhalten, um sie später zu Hause zu Bildern zu verarbeiten, antworte ich. Er findet diese Art sehr gut. Auch im Sommer, sagt er, sei es hier manchmal nicht besonders gut mit dem Malen, denn oft kämen plötzlich Gewitter. Ihm selbst sei zudem die Landschaft im Sommer zu grün. Zuviel Grün liebe er nicht. Da sei es doch im Winter meistens klarer und deshalb angenehmer, und er habe dann sehr oft sogar im Freien malen können.
„Als ich vor achtzehn Jahren nach hier kam“, sagte er, „war alles noch viel romantischer. Damals standen in Montagnola ganze zwölf Bauernhäuser, aber jetzt wird gebaut und gebaut, und darüber geht die Romantik verloren.“ — Seine Sekretärin nickt zustimmend mit dem Kopf, als er dies sagt. — „Das einzige Schöne ist noch, dass fast kein Auto nach hier kommt. Da hat man wenigstens noch die so notwendige Ruhe zum Malen.“
Wir sprechen Ober Reproduktionen, die ein Original nicht ersetzen und oft auch nicht wiedergeben könnten. Daher sei der Maler meistens enttäuscht, weil die Farben bei Reproduktionen in der Regel nicht denen des Originals adäquat seien. „Von mir“, sagt Professor Purrmann, „existieren einige, die in der Wiedergabe recht ordentlich sind.“
Wir sprechen über Matisse, mit dem er jahrzehntelang befreundet war, von Vlaminck und Nolde — beide kannte er nicht persönlich — sowie über Kokoschka. Wir diskutieren über den heutigen Kunstbetrieb und das teilweise schlechte Niveau von Kunstausstellungen und darüber, dass sehr oft Leute hochgespielt würden, deren Leistungen nicht befriedigen könnten. Abstrakte Malerei scheint Professor Purrmann nicht so sehr zu interessieren. Ich selbst hätte den Eindruck, sage ich, dass abstrakte Darstellungen doch meistens im Experiment stecken blieben. Und zudem hätten sie mir auf künstlerischem Gebiet nichts zu sagen. „Früher“, sagt er in diesem Zusammenhang dann, „haben Experten meine Bilder oft abgelehnt, und viel später haben sie sie dann angenommen — so ändern sich die Menschen! Mich interessiert alles, was gegenständliche Kunst ist.“
Während dieses Gesprächs isst Professor Purrmann seinen Lebkuchen und trinkt von seinem heißen Tee dazu, den die Ärzte ihm gestattet haben. Wir plaudern unterdessen über Menschen und über Landschaften, die wir beide gemeinsam kennen. „In Duisburg, Ihrer Heimat, war ich auch einmal als ganz junger Mensch“ — erinnert sich Professor Purrmann dabei. „Ich habe mich damals nämlich sehr für die großen Hüttenwerke interessiert und dort auch gemalt.“
Vor seinem großen Tisch hängen an der Wand einige Ölbilder aus früheren Jahren mit mehreren Frauenakten, wundervoll in den Farben. Sie fügen sich besonders gut in diesem Raum ein, der eine weltoffene, stark persönliche Atmosphäre ausströmt. Professor Purrmann zuzuhören, ist ein Genuss. Denn er ist ein sehr interessanter Erzähler und offenbart mir manchen Einblick in seine Malerei und in seine Gedankenwelt. Er lacht sehr gern, kann aber im gleichen Augenblick wieder ernst sein. Dabei blickt er mich unentwegt an. Als ich ihm erzähle, dass das deutsche Fernsehen kürzlich eine sehr interessante Sendung über ihn gebracht habe, sagt er bedauernd: „Ja, sie waren bei mir. Aber leider habe ich selbst von dieser Sendung nichts zu sehen bekommen.“
Ich erzähle, dass ich seinen Farben hier im Tessin auf Schritt und Tritt begegne, vor allem immer wieder seinem wundervollen Rot. Da gleitet ein eigentümlicher Glanz über sein ganzes Gesicht, und er lacht mir herzlich zu. Das Gespräch dreht sich um sein Befinden. Immer wieder muss ich seinen markanten Kopf und das kleine weiße Spitzbärtchen bewundern und mache ihm unwillkürlich ein Kompliment über sein gutes Aussehen. Seine Sekretärin meint, ich könne recht stolz sein, dass Professor Purrmann mich trotz seines kürzlichen schlechten Befindens zu sich eingeladen habe, zumal er fast keine Besuche empfange. Auch heute male er täglich, wie er ja immer ein sehr fleißiger Mann gewesen sei. „Früher“, sagt sie, „war es für ihn eigentlich besser, als sein Atelier entfernt lag; dann musste er noch mehr laufen. Aber heute sitzt er, und das ist nicht gut für ihn.“ Professor Purrmann meint dagegen, da er sein Atelier jetzt im Anschluss an dieses Haus habe, könne er bequem im Stuhl hingefahren werden.
Ich bin ganz gefangen von der beschaulichen Ruhe und dem ganzen Fluidum, das dieser Raum und Professor Purrmann selbst ausströmen. Ich halte den Augenblick für richtig, ihm zu sagen, ich hätte ihm einen Gruß aus der Heimat mitgebracht. Während seine Augen aufleuchten, zeige ich ihm zwei Gouachen auf Japanpapier von meiner Hand, eine niederrheinische Landschaft und einen Clown mit Artistin. Er nimmt das erste Bild fest in seine Hände und betrachtet es lange. „Diese wunderbaren leuchtenden Farben sind einmalig“, sagt er schließlich und fügt hinzu: „Mit solchen Werken müssten Sie doch anerkannt sein!“ Ich entgegne, es liege mir nicht, mich nach vorn zu drängen. Während er mit den Händen über das Bild streicht, sagt er mehrmals leise, fast für sich: „Dieses wundervolle Farbenspiel. Schauen Sie mal hier“ — dabei zeigt seine Hand auf eine ihn besonders packende Stelle — „die Farben leben und leuchten. Das schafft man nicht mit Ölfarbe.“
Dann zeige ich das zweite Bild, einen Clown mit Artistin. Er hält es lange in seinen Händen. „Diese Leuchtkraft Ihrer Farben“, meint er. „Ich bin sehr froh, dass Sie so malen. Es ist einfach erstaunlich in der heutigen Zeit. Sie haben Ihre persönlichen Farben. Ihre Komposition ist gut gelöst. Und dazu dieses Leuchten von innen.“ Und ich freue mich zu hören, dass er meinen Mut zu dieser persönlichen Aussage anerkennt und dass er auch gut findet, wie ich das Licht verteile. Als ich ihn dann bitte, die beiden Werke als sein Eigentum zu betrachten, wehrt er lächelnd ab. Aber, sage ich ihm, die Widmung stehe doch schon auf der Rückseite. Da nimmt er an und beauftragt sofort seine Sekretärin, beide Werke umgehend nach Lugano zu bringen und einrahmen zu lassen.
Die Zeit dieses Besuches ist bereits erheblich vorgeschritten, und ich verabschiede mich von Professor Purrmann. Ich drücke seine Hände und wünsche ihm weiterhin gute Gesundheit. Zum Abschied richtet er sich ein wenig aus seinem Sessel auf und blickt mich gütig aus seinen großen Augen an. Dann schließt sich die Tür.
Draußen dämmert es schon, leichter Schnee rieselt vom Himmel auf diese Landschaft, die mich ganz gefangen hält. Ich gehe zum Postbus und bin erstaunt, als an der zweiten Haltestelle auch Professor Purrmanns Sekretärin zusteigt. Sie hat beide Bilder, wie ich sehe, unterm Arm.
Lugano ist ein sehr romantisches altes Städtchen, umgeben von einer großartigen Bergwelt. Selbst im Winter findet man hier ein sehr angenehmes Klima und fast immer Sonnenschein. Eindrucksvolle malerische Winkel, auch in seiner Umgebung, lassen es mir nicht schwer fallen, Motive nach Herzenslust zu finden. Mit der Seilbahn fahre ich auf den über neunhundert Meter hohen Mont Brö. Trotz Sonnenschein im Tal ist der Berg noch reich mit Schnee bedeckt. Von seiner Spitze bietet sich ein wunderschöner Blick in das tiefer liegende Lugano und auf die Berge ringsum; selbst das Matterhorn und die Jungfrau in der Ferne sind gut zu erkennen — ein einmaliges Erlebnis. Wanderungen bringen mich nach Castagnola und Gandria, Morcote und Campione sowie in Orte mit interessanten Kirchen des nahegelegenen italienischen Gebiets, nach Varese und nach Luino am Lago Maggiore.
Bevor ich Lugano verlasse, erwartet mich noch ein anderes Erlebnis — wiederum in Montagnola und in Professor Purrmanns Nähe. Hier, so wusste ich, wohnte seit Jahrzehnten der deutsche Dichter Hermann Hesse. Hier war er 1962 gestorben und hat auch seine letzte Ruhestätte gefunden. Zum Abschied aus dem Tessin fahre ich an einem sehr sonnigen Tag erneut nach Montagnola. Die Landschaft ist traumhaft schön. Während ich auf dem Weg verschiedene Motive zeichne, leuchtet mir von weitem ein Säuleneingang entgegen, das Tor zum Friedhof von Montagnola. Der Gottesacker schmiegt sich an eine Anhöhe, auf deren gegenüberliegenden Seite eine prächtige alte Kirche liegt.
Hier entdecke ich ein Meer von Plastiken, riesengroße Figuren, Trauernde vor Marmortafeln, auf denen sich Inschriften und Bilder der Verstorbenen befinden, selbst lebensgroße Büsten Verblichener, überwiegend in Marmor. Nur wenige einfache und schlichte Gräber. Sicherlich waren diese Menschen auch in ihrem Leben so einfach, denke ich. Dieser große Unterschied selbst noch im Tode erweckt in mir eine etwas unbehagliche Stimmung, während ich das Grab von Hermann Hesse suche. Und nach einer Weile stehe ich vor seiner letzten Ruhestätte. Sie ist ganz schlicht und einfach, liegt an der Kopfwand der Friedhofsmauer und ist unter Schnee begraben. Eine kleine Marmortafel trägt nur die Inschrift: „Hermann Hesse“. Hier also liegt der große Dichter und Maler, ohne jeden Prunk, so bescheiden wie er auch im Leben war — er, der den Mitmenschen in seinen Werken einen so großen geistigen Reichtum hinterlassen hat.
Vom Friedhof gehe ich den Weg zurück nach Montagnola, von wo mir schon von weitem der hohe weiße Turm des Schlosses, in dem Professor Purrmann wohnt, entgegenleuchtet. Im kleinen Café komme ich dann mit dem Inhaber, einem recht sympathischen Mann ins Gespräch. Und während er mir erzählt, er habe früher auf den Kanarischen Inseln gewohnt, und er dabei erfährt, dass ich Maler sei, bringt er das Gespräch sofort auf Professor Purrmann und Hermann Hesse, die er beide persönlich gut zu kennen vorgibt. Vor allem der Herr Professor sei früher des öfteren in seinem Café gewesen und habe auch seine Tochter gemalt. Er empfange heute nur noch selten jemanden. Seine Frau sei schon lange tot. Er wohne jetzt sehr zurückgezogen, male aber noch jeden Tag. Hermann Hesse habe sehr bescheiden und fast menschenscheu in Montagnola gelebt. Auch er habe Besuche nur in den seltensten Fällen empfangen. Er sei aber ein hochherziger, großer Mensch gewesen. Jetzt, da er tot sei, lebe seine Frau, eine Dichterin, die auch Märchen schreibe, gänzlich zurückgezogen in seinem Heim. Man sehe sie nur sehr selten.
Schließlich beschreibt er mir den Weg zu Hesses Haus. Zunächst laufe ich den verkehrten Weg bergauf; denn ich kenne sein Haus nur von einer farbigen Postkarte. Zum Glück bringt mich eine Frau, der ich unterwegs begegne, auf den richtigen Weg. Dabei komme ich durch ein kleines Wäldchen, das kein Ende zu nehmen scheint. Eine herrliche Landschaft bietet sich meinen Augen. Ich bin ganz entzückt von soviel Schönheit. Die Berge leuchten in satten Farben. Der Himmel ist rötlich, und ich denke an Bilder von Professor Purrmann. Das sind seine Farben mit dem zauberhaften Glanz des Tessin.
Ich befinde mich inzwischen auf einer Anhöhe, von der aus ganz Lugano von meinen Füßen liegt, ein unvergesslicher Anblick und ein Erlebnis zugleich. Hier möchte man für immer wohnen, denke ich unwillkürlich. Links vor mir an steilen Wiesenhängen, die teilweise noch mit Schnee bedeckt sind, liegen einige reizvolle Häuser im Glanz der Sonne. Plötzlich stehe ich vor einer Säule, hinter der sich eine Allee öffnet. Auf einer weißgestrichenen Fläche finde ich eine verwitterte Inschrift: „Bitte keine Besuche“. Ich gehe weiter, denn ich glaube sicher, jetzt den Weg zu Hermann Hesses Haus gefunden zu haben. Und richtig — nach etwa 150 Meter leuchtet mir ein rotes Gebäude entgegen.
Ringsum herrscht völlige Stille, so dass ich den Eindruck habe, als ob hier schon lange niemand mehr wohnt. An der Vorderseite des Hauses sind zwei Türen, und eine von ihnen trägt ein handgeschriebenes Schild mit folgender Aufschrift:
Worte des Meng Hsi — altchinesisch
Wenn einer alt geworden ist und das Seine getan hat, steht ihm zu, sich in der Stille mit dem Tode zu befreunden. Nicht bedarf er der Menschen. Er kennt sie, er hat ihrer genug gesehen. Wessen er bedarf, ist Stille! Nicht schicklich ist es, einen solchen aufzusuchen, ihn anzureden, ihn mit Schwatzen zu quälen. An der Pforte seiner Behausung ziemt es sich vorbeizugehen als wäre sie niemands Wohnung.
Beeindruckt von diesen Worten mache im mir im Geheimen schon Vorwürfe, es gewagt zu haben, dieses Haus aufzusuchen. Aber jetzt stehe ich nun einmal vor diesem Haus, in dem der berühmte Dichter, Erzähler und Maler gelebt und gearbeitet hat. Die letzten warmen Sonnenstrahlen beleuchten das Gebäude, und das Rot der Wand erscheint mir noch feuriger, fast so als ob es brennen würde. Das Haus liegt in einer Mulde und strömt einen tiefen Frieden aus. Und ich gehe, nachdem ich mich an dem Anblick sattgesehen habe und die Schatten der untergehenden Sonne sich bereits bemerkbar machen, langsam den Weg zurück, den ich gekommen bin. Der Schnee auf den Berggipfeln zeigt sich bereits in stark rötlichen Tönen und erinnert mich an Alpenglühen, wenn ich die lange Kette der Berge betrachte und den sich in tiefem Blau färbenden Himmel. Das gibt der Landschaft eine geheimnisvolle Stimmung, denn selbst die Vegetation leuchtet in diesen Farben. Hier herrschen Frieden und eine nicht wiederzugebende Atmosphäre der Besinnlichkeit.
Während ich so zurückgehe, erblicke ich plötzlich eine Frau, die mir entgegenkommt. Sie ist von mittlerer Statur, dunkel gekleidet und trägt in der linken Hand ein kleines weißes Paket. Ich bin recht verlegen in diesem Augenblick, auf dem Privatweg eines Hauses entdeckt zu werden, und blicke unwillkürlich ins Tal hinab. Auch sie muss mich gesehen haben; denn als ich weitergehe, ist sie zunächst meinen Augen entschwunden. Aber dann sehe ich, wie sie hinter einem Baum hervorlugt und sich anschickt, ebenfalls weiterzugehen. Mit einem etwas schlechten Gewissen und recht verlegen ziehe ich meinen Hut und grüße sie mit einem „Guten Tag“, was sie in deutscher Sprache sehr freundlich erwidert. Als sie vorbei ist, schießt mir der Gedanke durch den Kopf, diese Frau müsse die Gattin des verstorbenen Dichters Hermann Hesse gewesen sein.
Während ich mich immer weiter von dem Haus entferne, läuft mir plötzlich schnellen Schritts eine Frau über den Weg, die Briefe in der Hand hat, eine Briefträgerin offensichtlich. Ich fasse mir ein Herz und frage sie, ob die Dame eben Frau Hesse gewesen sei. Ja, erwidert sie. „Ich konnte sie nicht mehr einholen; denn ich habe Post für sie.“ Wir kommen in ein kurzes Gespräch. Ich frage sie nach dem Dichter, den sie als einen sehr liebenswürdigen Menschen bezeichnet, der immer sehr optimistisch und bei den Leuten sehr beliebt gewesen sei. Die Frau kennt auch Professor Purrmann. Sie sehe ihn noch öfters, weil sie ihm Briefe bringe; aber nach Montagnola komme er fast nicht mehr. Er lebe sehr zurückgezogen und empfange auch keine Besuche.
Als sie hört, dass ich noch vor wenigen Tagen bei Professor Purrmann gewesen bin, fragt sie mich plötzlich ganz unverblümt: „Wollten Sie nicht auch zu Frau Hesse? Ich kenne sie sehr gut. Vielleicht gestattet Sie Ihnen, das Haus zu sehen.“ Aber ich wehre ab und sage, was Frau Hesse wohl denken würde, wenn ich — ein wildfremder Mensch — ihr Haus sehen wolle, zumal sie ja sehr zurückgezogen lebe. Aber sie lässt nicht locker und nimmt mich mit. Sie schellt an der Tür, übergibt ihre Post, und während ich abseits stehe, hält sie ein leises, aber offensichtlich sehr bestimmtes Gespräch mit der Frau, die ihr geöffnet hatte. Und während diese, offenbar die Hausdame, ins Innere geht und die Türe leicht anlehnt, kommt auch schon die Postbotin und sagt, ich möchte noch etwas warten; denn Frau Hesse werde über die Angelegenheit befragt. Sie glaube sicher, dass ich gleich empfangen würde — und schon ist sie verschwunden.
Ich gehe im Schnee einige Schritte hin und her und warte voll Spannung. Aber lange brauche ich nicht zu warten. Dann öffnet sich die Tür, und die Dame bittet mich, einzutreten. Und so stehe ich nun in dem Haus, in dem Hermann Hesse gelebt und gearbeitet hat und auch gestorben ist. Man bittet mich, Mantel und Hut abzulegen, und ich schreibe meinen Namen, da ich keine Visitenkarte bei mir habe, auf ein Stück Papier: „Calmés, Maler aus Deutschland“. Mit diesem Zettel geht die Frau wieder in die erste Etage, kommt aber schon bald wieder und sagt mir, Frau Hesse ließe sich vielmals entschuldigen. Sie könne mich nicht selbst empfangen, da sie im Augenblick an einem Buch schreibe. Aber sie habe gestattet, dass mir die Räume ihres verstorbenen Mannes gezeigt würden.
Während ich einen Augenblick warten muss, gehen meine Gedanken einige Tage zurück. Ich erinnere mich, in einem kleinen Laden gegenüber der Post von Montagnola kürzlich ein Buch über Hermann Hesse entdeckt zu haben „Bilder aus dem Tessin“ mit wundervollen fotografischen Aufnahmen aus dem Leben des Dichters. Vor allem steht mir ein Bild vor Augen, das zeigt, wie Hermann Hesse eine schöne Katze streichelt. Als wir dann in den ersten Raum treten, kommt mir als erstes eine schöne dunkelhaarige Katze entgegen, die sich von mir streicheln lässt. Und ich höre, sie sei Hermann Hesses Liebling gewesen und heute bereits elf Jahre alt. Auf dem Platz, an dem sie vorher gesessen haben muss, stehen zwei mit Milch gefüllte Schalen.
Der Raum birgt viele Bücher in Regalen, die bis unter die Decke reichen; viele liegen auch säuberlich geordnet auf einem Tisch. Der Raum hat große Fenster. Der Ausblick von hier oben in die Landschaft ist umfassend. Ich sehe zwei Plastiken von Hermann Hesse und entdecke an der Wand auch ein sehr schönes Porträt von ihm in Öl, ich glaube, ein Bild aus seinen letzten Jahren. Die Sonne bescheint noch im Abendglanz den Raum in einem zarten Licht, den Fußboden bedecken einige farbige Teppiche.
Wir gehen nebenan in den ehemaligen Arbeitsraum. Als erstes fallen mir der Arbeitstisch ins Auge und der leere Sessel, auf dem Hesse zu Lebzeiten gesessen und gearbeitet hat. Ein trauriges Gefühl kommt in mir auf und mir wird ganz wehmütig ums Herz. Nun steht der Sessel leer, auf seinem Schreibtisch liegen noch einige Blätter, mehrere Bücher. Es stehen hier mehrere Vasen, gefüllt mit Bleistiften. An den Tisch angelehnt ein kleiner Hocker, auf dem der Hut von Hesse liegt. Mir ist, als habe Hesse nur für einen Augenblick den Raum verlassen und vergessen, den Hut mitzunehmen. Das Zimmer befindet sich noch, wie ich höre, in dem gleichen Zustand, wie Hesse es zurückgelassen hat.
Auch hier in den Regalen bis an die Decke Bücher, und an einer Wand hinter seinem Arbeitstisch eine Anzahl exotischer großer Schmetterlinge, die in herrlichen Farben schillern. Das hereinflutende Abendlicht fällt auf einen Gobelin und verzaubert seine schon von Natur aus schönen Farben. In eingelassenen Mulden an den Wänden befinden sich Gemälde, unter ihnen eine Tessiner Landschaft, die Hermann Hesses Sohn gemalt hat. Dann zeigt man mir voller Stolz ein Ölbild, auf das Hesse blickte, wenn er vor seinem Schreibtisch saß: „Das ist der Freund von Hermann Hesse, der berühmte Maler Professor Hans Purrmann, den Sie ja kennen.“
Ich verabschiede mich herzlich und trete meinen Weg nach Montagnola an. Scheu blicke ich noch einmal, bevor ich das Haus verlasse, auf das große Schild am Eingang und die Worte des chinesischen Weisen, die mich auf meinem Weg in den Ort begleiten.
Ein großer Weihnachtsbaum mit farbigen Glaskugeln und weißen Kerzen begrüßt mich mitten im Ort. Es ist inzwischen dunkel geworden. Kinder und Erwachsene stehen vor diesem Baum. Plötzlich hebt sich der rote Mantel eines Weihnachtsmannes aus dem Dunkel. Er tritt unter die Menschen, steigt auf ein kleines Podium und verteilt nach einer sehr temperamentvollen Ansprache Weihnachtsgaben. Jeder erhält eine große Tüte.
Auch für mich hatte Weihnachten im Tessin eine prall gefüllte Tüte voll tiefer Erlebnisse — das weiß ich, als ich am nächsten Tag wieder nordwärts nach Hause fahre.
Bei Anton Rauh in Bamberg
1956 lernte ich den Bamberger Kunstsammler Anton Rauh kennen. Er ist nicht nur Sammler, sondern auch selbst Maler von hohen Graden. Er sah meine Werke und war von ihrer Gestaltungskraft und ihren Farben stark gepackt. Meine erste Kollektivausstellung in seiner Galerie in der Nähe des Bamberger Doms wurde zu einem schönen Erfolg, so dass er mir seither seine Räume noch für zwei weitere Ausstellungen zur Verfügung stellte. Viele bedeutende Maler haben ihre Werke in seiner Galerie ausgestellt, unter ihnen Werner Gilles, Prof. Hans Purrmann, Prof. Caspar Filser und Frau Filser. Sie alle haben sich mit Sammlern und Kunsthistorikern wie etwa Wilhelm Uhde in einem großen Buch verewigt, das Anton Rauh wie einen Schatz hütet, und in dem auch mein Name steht.
Das Atelier Rauh liegt direkt am Fuß des berühmten Doms, der in seinem Innern den in der ganzen Welt bekannten Bamberger Reiter beherbergt. Oft habe ich bei Besuchen in Bamberg vor diesem Kunstwerk gestanden und es bewundert. Der Reiter reitet wirklich — er lebte und atmete mir entgegen. Anton Rauhs Atelier birgt einmalige Kunstwerke aus aller Welt. Man hat den Eindruck, man befinde sich nicht mehr in der alten historischen Stadt am Main, sondern in einer Kunstwelt vergangener Zeiten, wenn man die Plastiken, Masken und Edelsteine, den Schmuck sowie alte wertvolle Krüge, Becher und Bilder betrachtet. Eine Abteilung zeigt Kunstwerke der heutigen Zeit. Es ist ein immer wieder starkes Erlebnis, einige Stunden in diesen Räumen weilen und den Erzählungen Anton Rauhs lauschen zu können, während er seine wertvolle historische Sammlung, die er in seinem langen Leben mit großer Liebe zusammengetragen hat, dem Gast erläutert.
Wenn wir aber mit anderen Künstlern oben auf dem berühmten Michelsberg bei einem guten Schoppen und dem unvermeidlichen Rettich sitzen, erzählt er bei einer Virginia aus seinem eigenen Künstlerleben. Trotz seines hohen Alters leuchten dabei seine blauen Augen und strahlen wie Sterne. Diese Erzählungen wirken auf mich immer wie das Betrachten eines plastischen Gebildes und geben mir neue Ideen für meine eigene malerische Gestaltung. Rauh ist unzweifelhaft das, was man ein Original nennt. Er ist stets unermüdlich tätig. Er ist ein Genie, das nicht altert. Auch auf gemeinsamen Spaziergängen in die herrliche Umgebung Bambergs geht er mühelos in einem Zug drei bis vier Stunden. „Wissen Sie“ — so sagte er einmal zu mir — „Kunst erhält elastisch und jung.“ Seit wir uns kennen, verbindet uns eine tiefe Freundschaft.
In einer bekannten Künstlerstube, in der ich mit Bamberger Kunstfreunden zusammensaß, lernte ich Anfang Juni 1963 den Surrealisten Bauer aus der „Münchner Gruppe“ kennen, der längere Zeit mit Werner Gilles auf Ischia gelebt und gemalt hat. Er ist ein sehr lebhafter und interessanter, geistreicher Erzähler; man erlebt förmlich bildhaft vor den Augen, was er berichtet. Auf Ischia konnte Bauer — nicht nur ein bekannter Maler, sondern auch ein meisterhafter Fotograf — wertvolle Aufnahmen von Werner Gilles machen, die er heute als großen Schatz hütet. Als ich Bauer erzählte, dass ich Gilles vor über zwanzig Jahren in Essen kennengelernt hätte und wir gute Freunde gewesen seien, war er sehr begeistert; und ich war erschüttert, von ihm zu hören, dass Gilles ihm in Italien oft von seinem „Duisburger Freund“ berichtet hätte, den er seit dieser Zeit nicht mehr gesehen habe. Während meines Bamberger Aufenthaltes schenkte mir Bauer drei gute Aufnahmen, die er zwischen 1959 und 1961 — also noch vor Werner Gilles‘ Tod — auf der Insel Ischia von ihm gemacht hatte.
Ein anderer Kunstfreund aus diesem Künstlerkreis, der zur gleichen Zeit wie Bauer auf dieser paradiesischen Insel gelebt hatte und mit Werner Gilles bekannt geworden war, erzählte mir, wie bescheiden und anspruchslos Gilles dort gewohnt habe. 1963 konnte ich selbst Ischia und auch Sanct Angelo besuchen, wo Gilles einige Zeit gelebt hat und viele seiner Werke entstanden sind. St. Angelo ist ein kleiner, romantisch anmutender Ort, bei dessen Anblick man die Formen der letzten Bilder von Gilles sofort erlebt. Ich selbst malte dort einige Studien nach der Natur.
In der Galerie Rauh machte ich auch die Bekanntschaft der Bamberger Malerin Maria Samuel. Sie beglückwünschte mich zu meinen Ausstellungen. „Ihre Werke leben immer“, sagte sie mir und lud mich in ihr nahegelegenes Atelier ein, wo sie mich mit ihren Arbeiten bekanntmachte. Ich war sehr überrascht. An diesem Tag malten wir gemeinsam eine kleine Studie. Sie war begeistert von meiner Farbgebung. Als sie einmal für kurze Zeit in einen Nebenraum gegangen war, hatte ich eine zweite Skizze gemalt, einen zitronengelben Himmel mit einer grün- und orangefarbenen Erde. Ihre Freude war groß, als ich es ihr zum Geschenk machte. Sie verehrte mir zum Abschied ein sehr schönes Aquarell — eine untergehende Sonne über dem Wasser.
Hier in Bamberg machte ich auch die Bekanntschaft des jungen Kunstkritikers P. E. M., der sich mit viel Liebe in mein Werk versenkte. Von seiner Hand las ich dann — im Juni 1963 — eine Kritik der jüngsten Kollektivausstellung, in der er unter anderem schrieb: „Früh schon begann Calmés zu malen, die Faszination der Farben hat ihn bisher nicht verlassen, im Gegenteil. Seine jüngsten Gouachen auf Japanpapier von 1960 bis 1962 zeigen einen neuen Calmés, enthüllen gleichsam eine hart erkämpfte, grimmige Einsicht in vorher für den Künstler nicht existierende Farbkonstellationen und Materialien. Aus dem spontanen Anreiz heraus setzt er mit ungeheurer, expressiver Vehemenz die Kontraste seiner glutenden Niederrhein-Landschaften, die im Grunde genommen, so ungewöhnlich das klingen mag, Himmelslandschaften‘ sind. Calmés steht in dieser bisher letzten Entwicklung seiner schöpferischen Potenz dem 1956 verstorbenen Emil Nolde sehr nahe. Der gänzlich unepigonale Motivreichtum von Calmés wird aber erst dann deutlich, wenn man andere, ebenfalls in neuester Zeit entstandene Gouachen neben die großen Niederrhein-Landschaften stellt. Da ist zum Beispiel die ,Begegnung‘ (um 1960): Ein alter Mann und eine alte Frau gehen aufeinander zu; sie stehen eingehüllt in Feuer brennender Farben (gelbrote Kontraste), die gegen den Rand des Bildes zu einem nur schwer enträtselbaren Blau gefrieren, doch in ihren Gesten sind Ablehnung und Abwehr. Man ahnt, sie werden vielleicht aneinander vorbeigehen, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Es ist nun erregend zu sehen, wie Calmés diesen in seiner Grundsubstanz von jeher ,tragischen Sachverhalt‘, der sich ja doch täglich und überall ereignen kann, zu bedeutsamer Einmaligkeit gesteigert hat“.
Harry Sternberg
Es gab für mich nur einen Harry Sternberg, den Zeichner, dem es nicht vergönnt war, sein hohes Ziel in der Kunst zu erreichen. Seine Berufsqualitäten waren hervorragend. Als Mensch war er eine markante Erscheinung, in der sich ruhige Überlegung, Anpassungsfähigkeit und Haltung zu einem ganz persönlichen Lebensstil vereinten. Er war — alles in allem — ein Mann, der durch sein kulturelles Niveau bestach.
Als Mensch litt Sternberg sehr unter den wirtschaftlichen Nöten dieses Lebens, dessen „Erfolge“ seine Hoffnungen nicht erfüllten. In der Zusammensetzung unserer Gesellschaft fand er nicht die von ihm angestrebte soziale Struktur, an der er zuletzt auch scheitern sollte, als er sein irdisches Sein mit nur fünfzig Jahren auf tragische Weise von sich warf. Er hatte einfach den Glauben an den Menschen verloren — letztlich die Ursache seines im Selbstmord endenden Lebens.
Harry Sternberg war wie ich Duisburger. Wir waren befreundet — seit langen Jahren, und wir blieben es über eine zwanzigjährige Trennung seit den bösen dreißiger Jahren hinweg. Er war ein Mensch, dessen Gedanken noch einer Welt gehörten, die mit unserer Zeit nichts mehr gemeinsam hat. Vielleicht deshalb war der geistige Austausch mit ihm immer ein so tiefes Erlebnis für mich gewesen.
Das Jahr 1938 hatte ihn, den Juden, gezwungen, schweren Herzens seine Heimat zu verlassen, um sich eine andere zu suchen. Er ging nach Amerika. 24 Jahre habe ich dann nichts mehr von ihm gehört. Ich wusste nicht, ob er überhaupt noch lebte. Im Dezember 1962 bei einer morgendlichen Besorgung auf dem Sonnenwall in Duisburg stand Harry Sternberg auf einmal vor mir. Es war uns beiden, als ob wir uns gestern erst „Auf Wiedersehn“ gesagt und nur eine kleine Reise gemacht hätten — jeder aber in eine andere Richtung.
Er sprach noch immer ein tadelloses Deutsch. Seine Haltung war aufrecht; aber ich hatte den Eindruck, es war die eines letzten Aufrichtens. Mir schien schon im ersten Augenblick, als hätten Enttäuschung, Verzweiflung und Schmerzen meinen Freund nach Deutschland zurückgeführt. Er war aus Amerika in seine alte Heimat zurückgekommen, im festen Glauben, sich hier wieder zurechtfinden und seine künstlerische Arbeit von neuem aufnehmen zu können. Als wir uns nach acht Tagen erneut unverhofft in der Stadt trafen, offenbarte er mir ganz offen seine Enttäuschungen und seine seelischen Qualen. Er eröffnete mir jetzt auch seine Gefühle, seine Depressionen. Er sprach von der Last des Alleinseins, von einer schwindenden Lebenskraft und einem verlorenen Gefecht, wie er sich ausdrückte. Diese Begegnung erschütterte mich tief. Ich suchte ihm Trost zu geben. Ich sagte ihm, er solle nicht verzweifeln. Es gebe sicher noch viele Wege ihm zu helfen, und ich selbst wolle tun, was in meinen Kräften stehe.
Er schien etwas ermutigt, und wir verabredeten uns für einen späteren Tag. Dieses Treffen fand aber bedauerlicherweise dann nicht mehr statt, wenn wir uns auch noch einmal, zum drittenmal sahen. Ich befand mich in der Vorhalle des Duisburger Hauptbahnhofs, als ich ihm zum letzten Mal begegnete. Seine Freude war groß, aber ich merkte deutlich die Schatten einer tiefen Verzweiflung in seinem Wesen. „Wie froh bin ich“ — sagte er — „Dich noch einmal zu sehen.“ Komische Worte, dachte ich und schwieg betroffen. Ich bot ihm an, einen uns beiden von früher her bekannten Juristen telefonisch zu verständigen und ihm seinen Besuch anzumelden, bei dem ich ihn übrigens begleiten wollte. Er ging bereitwillig darauf ein. Aber leider fanden wir beim Durchblättern des Telefonbuches nicht sofort die Anschrift, so dass wir verabredeten, am nächsten Tag einander erneut zu treffen und verabschiedeten uns besonders herzlich.
Aber zu diesem neuen Treffen sollte es dann nicht mehr kommen. Ein beklemmendes Gefühl trieb mich am nächsten Tag in die Stadt, wo ich plötzlich vor einem Zeitungsaushang stehen blieb. Ich traute meinen Augen nicht; denn dort stand in großen Buchstaben: „Zum Entsetzen der Passanten sprang gestern Nachmittag der Jude Harry Sternberg aus dem Fenster des vierten Stocks eines Hauses auf die Straße. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb er.“
Ich war tief erschüttert. In der Bahnhofshalle waren wir uns zum letzten Mal begegnet — und jetzt dieses traurige, tragische Ende
Prinz Amrin
Im Jahre 1953 fand in Den Haag in Holland eine Kollektivausstellung meiner Werke statt. Während dieser Zeit wohnte ich in einer kleinen Pension in der Nähe der indonesischen Botschaft. Eines Morgens beim Frühstück saß an meinem Tisch ein mittelgroßer, sehr netter Herr, den ich seinem Äußeren nach zunächst für einen Japaner hielt. Wir sahen uns in den nächsten Tagen dann noch öfters und freundeten uns schließlich an. Es war — wie sich herausstellte — der indonesische Prinz Amrin aus Djakarta. Als er hörte, ich sei Maler, war er sofort begeistert; denn wie alle geistig gebildeten Männer Südostasiens war er sehr kunstinteressiert und auch kunstverständig. Es war deshalb für mich ganz selbstverständlich, ihn mit meiner Malerei bekanntzumachen. Auf gemeinsamen Spaziergängen und Ausflügen diskutierten wir oft und lange über künstlerische Fragen. Er sprach ein sehr gutes Holländisch.
Prinz Amrin verdankte ich es, öfters in die indonesische Botschaft eingeladen zu werden und dort einen Hauch seiner exotischen Heimat zu erleben. Ein Abend wurde mir zu einem besonderen Erlebnis. Man veranstaltete einen Tanzabend mit einer aus Indonesien eingetroffenen Heimattruppe. Die Säle waren prächtig geschmückt. Der Abend, zu dem Diplomaten aller Herren Länder erschienen waren, begann mit Ansprachen. Dann folgte an festlich gedeckten Tischen eine große Tafel und erst zum Schluss begann die Truppe mit ihren Darbietungen. Es waren vor allem Tänze aus Java und Bali, deren Bewegungen mir — zusammen mit den farbenprächtigen Kostümen und der magischen Begleitmusik — den allerhöchsten Kunstgenuss schenkten von einer Kultur, die ich bisher nur aus Büchern kannte. Das Erlebnis dieses Abends, an dem ich mich wie in ein Zauberland versetzt fühlte, war so stark, dass aus der Erinnerung heraus später einige Bilder entstanden mit javanischen Motiven, obwohl ich dieses Land nie mit eigenen Augen gesehen habe.
Als ich wieder zurück nach Deutschland musste, versprach Prinz Amrin mir, mich in Duisburg zu besuchen. Wenig später erhielt ich auch von ihm einen Brief, der mir seinen Besuch ankündigte. Er schrieb manch Schmeichelhaftes, so zum Beispiel, dass meine Bilder auf ihn einen großen Eindruck gemacht hätten, da sie von einer starken farbigen Eigenwilligkeit und Persönlichkeit zeugten. Und er bot sich an, in der Hauptstadt Indonesiens eine Kollektivausstellung zu veranlassen und lud mich selbst nach Djakarta ein, wohin er in Kürze zurückkehren wollte. Dann kam er selbst nach Duisburg und wohnte einige Tage bei mir. Wir saßen vor allem abends oft lange zusammen, betrachteten meine Bilder und unterhielten uns über seine Heimat. Dann fuhr er nach Indonesien. Noch einmal erhielt ich Post von ihm, wobei er mir schrieb, er sei gut angekommen. Einige Zeit später brachen dann in Indonesien die Kämpfe zwischen Holländern und Indonesiern aus, die schließlich zur Abtrennung ganz Inselindiens von den Niederlanden führten. Da es für Europäer sehr gefährlich war, um diese Zeit Indonesien zu besuchen, stellte ich mein Vorhaben, nach Indonesien zu reisen, zunächst zurück. Schließlich musste ich die Reise ganz aufgeben.
So ist leider aus einem Besuch in dieser Welt der Tropen nichts geworden. Mir blieb nur die Erinnerung an geistreiche Gespräche mit einem Menschen voll Esprit über Fragen europäischer und asiatischer Kultur und Kunst, an einen Mann, der vor mir aufgeleuchtet war wie eine Sternschnuppe, um im Dunkel der Zeit zu versinken wie ein Stein, der ins Wasser fällt. Nur die Wellen zeigten noch eine Weile an, dass er das Wasser bewegte …
Juliane Leichel
In Arnheim in Holland lernte ich 1929 Juliane Leichel kennen, die Tochter des berühmten Orgelbauers Leichel, aus dessen Werkstatt auch die Orgeln in vielen deutschen Gotteshäusern stammen. Frau Leichel war nicht nur der Musik sehr zugetan, sondern auch der Kunst. Mit ihr verband mich eine viele Jahre dauernde enge Freundschaft, die durch jährliche gegenseitige Besuche immer fester wurde. Sie wohnte in einer schönen Waldgegend voller Blumen. Wenn ich sie besuchte, liebte sie es, dass ich fünfzig Meter von ihrem Haus entfernt laut ihren Vornamen rief. Nun hieß sie zwar Juliane, aber diesen Namen mochte sie aus meinem Mund nicht hören. Für mich hieß sie nur Jüll. Wenn ich so aus der Ferne laut „Hallo, Jüll“ rief, kam sie mir entgegengelaufen und umarmte mich herzlich.
Juliane Leichel erzählte mir in manchen glücklichen Stunden von ihrem Vater und von Franz Liszt, die sie auf ihren zahlreichen gemeinsamen Konzertreisen durch die Welt begleitet hatte. Beide verband eine enge Freundschaft. „In vielen Ländern“ — so sagte sie — „stehen von meinem Vater gebaute Orgeln. Liszt und Leichel beglückten die Menschen mit Konzerten, wobei Liszt auf Orgeln von Leichel spielte.“ Frau Leichel war eine sehr interessante Erzählerin und Interpretin, der man stundenlang mit größter Spannung zuhören konnte. Wenn sie von fernen Ländern berichtete, erhielt ihr herbes Gesicht ein eigenartig verklärtes Aufleuchten — den Ausdruck einer herzensguten, liebevollen Frau, einer gütigen großen Seele von unbeschreiblicher malerischer Schönheit und großem Adel.
Leichel und Liszt waren großherzige Menschen. Frau Leichel berichtete mir von einem Erlebnis, das sie in Wien hatte. Es war zwei Tage vor Weihnachten, als in das Hotel, in dem sie mit ihrem Vater und Liszt wohnte, zwei große Kisten gebracht wurden. Sie enthielten alle möglichen Kleidungsstücke, Spielzeug und Gebäck, mit dem an diesem Abend dann eine große Anzahl armer Kinder beschert wurde. Die strahlenden Kinderaugen, so sagte Frau Leichel, habe sie seither nie vergessen können.
Für Frau Leichel malte ich einige Bilder, kopierte auch Rembrandt, den sie so liebte, und Frans Hals. Sie hatte das Wesen einer gütigen, feinfühlenden Mutter. Noch im hohen Alter, in dem sie trotz schneeweißem Haar recht jugendlich wirkte, trug sie mit gutem Geschmack stark farbige Kleider und bunten Schmuck. Nur nach ihrem Alter durfte man sie nicht fragen; denn sie wollte sich, auch vor sich selber, die Jugend erhalten. Und sie ist auch für die Menschen und mit ihrem Herzen bis zu unserem letzten Abschied jung geblieben. Auch sie lebt heute nicht mehr; aber sehr oft noch muss ich an jene glücklichen Stunden und Wochen in Holland denken, in denen es mir vergönnt war, „Madame Jüll“ zu erleben.
Ein ganzes Menschenleben — in einem Gesicht.
Es ist für den Maler immer wieder neu erregend, Menschen zu porträtieren. Denn in ihren Gesichtern kann man oft ganze Schicksale lesen. Einmal zeichnete ich eine 85jährige Frau. Ihr Gesicht hatte sehr markante Züge. Sie war noch in ihrem hohen Alter schön und dazu sehr geistreich. Während des Zeichnens bemerkte ich des öfteren, wie sich ihr Gesicht verklärte und seinen Ausdruck wechselte. Das hatte ich schon einmal bei einem Professor, den ich zeichnete, festgestellt. Diese Frau war von schlanker Eleganz, sie hatte noch fast helles Haar und wundervolle blaue, glänzende, kluge Augen. Ihr ganzer Kopf war vital durchgebildet. Beim Erzählen beobachtete ich den hinreißenden Wechsel ihrer Mimik, die sie mit gut geformten Handbewegungen noch kräftig unterstrich. Mit ihrem klaren, geordneten Verstand konnte sie mir jede kleinste Einzelheit aus ihrem reichen, langen Leben genau wiedergeben. Sie erzählte mir, dass sie früher einmal auf der Bühne gewesen sei und diesem künstlerischen Leben noch heute ihre Beweglichkeit verdanke. Ich erlebte, was ihr Mozart und Beethoven bedeuteten, und sie berichtete mir von klassischen Gestalten in den Darstellungen von Schauspielern ihrer Zeit. Dabei formte sie ihre Erzählung zu einem farbigen Gemälde voll Lebensfreude, Spannung und Dramatik. Sie hatte außerdem ein starkes Schönheitsempfinden, das ihre Persönlichkeit noch besonders unterstrich.
Es erging mir in diesen Stunden mit der alten Frau, als ob zwischen uns bereits seit langen Jahren eine innere Wahlverwandtschaft bestünde. Ich verehrte sie und fühlte mich ihr sehr verbunden. Es war mir, als ob ich in den tiefsten Grund ihrer Seele schauen könnte; denn die Kunst liebte sie über alles. Sie überblickte die Vielfältigkeit unserer Welt, in der sie groß geworden war, recht klar. Dabei hatte ihre Stimme einen seltsamen Klang von Würde und Sehnsucht, die ihrer ganzen Gestalt eine große harmonische Ruhe verlieh.
Sie verglich Malen mit nebelhaften Träumen aus einem Zauberland, mit emporquellender Musik von Gedanken voll Jubel, mit Liedern, die ungesungen aus der Brust schwellen und mit edlen Düften in der Seele untertauchen, aber wiederkehren. Ihre Erfindungsgabe weckte in mir neue Impulse und Ideen zu künstlerischer Gestaltung. Während ich diese im Sessel zurückgelehnte Frau sah und ihren Erzählungen lauschte, wirkte sie auf mich schließlich wie eine Dame aus einem Meisterbild der großen holländischen Kunst des siebzehnten Jahrhunderts. Als sie schließlich ihre Zeichnung vollendet sah, leuchtete ihr schönes Gesicht, und sie meinte: „Sie haben mir in meinem Gesicht mein ganzes Leben mit allen seinen Freuden und Leiden noch einmal offenbart.“
Zwei seltsame Wünsche
Kurz vor dem Krieg kam eines Tages ein kräftiger mittelgroßer Mann mit seiner Frau in mein Atelier. Seine Frau fragte, ob ich ihren Mann zeichnen könne. Da ich an diesem Tage von einem richtigen Zeichenfieber befallen war, willigte ich kurzerhand ein.
Der Mann war dunkelhaarig, hatte sich einige Tage nicht rasiert und trug deshalb einen schönen Stoppelbart. Ich nahm mein Zeichenbrett, setzte mich vor meine Staffelei und bat den Mann, vor mir Platz zu nehmen. Er war aber sehr unruhig; er konnte einfach nicht still sitzen und bewegte den Kopf hin und her, so dass es mir unmöglich war ihn zu zeichnen. Ich bat ihn mehrere Male, doch wenigstens seinen Kopf ruhig zu halten, aber es nützte nicht viel. Da bot sich seine Frau an, den Kopf einfach festzuhalten. Und siehe da, jetzt ging es besser; er hielt still, und ich konnte weiterzeichnen.
Während ich nun arbeitete, sagte die Frau auf einmal zu mir, ich möchte das Gesicht ihres Mannes ganz glatt zeichnen, also ohne den Bart. Das klang recht eigenartig aus dem Munde der Frau, die offensichtlich einen starken Einfluss auf ihren Mann hatte, der jetzt still dasaß und vor sich hinsann. „Wissen Sie“ — sagte die Frau wie zu meiner Beruhigung — „er ist sonst ein herzensguter Mensch. Nur hat er einen Fehler: Er rasiert sich nicht gern.“ Die Zeichnung war schnell fertig und auch sehr ähnlich geworden. Beide waren recht zufrieden mit ihr. Beim Verabschieden bedankte sich die Frau noch einmal und sagte zu mir: „Sie sind ein tüchtiger Maler. Denn Sie haben es fertiggebracht, meinen Mann mit dem Bleistift zu rasieren.“
Ein andermal zeichnete ich ein Geschwisterpaar, zwei Mädchen, zudem noch Zwillinge. Im Gegensatz zu dem unruhigen Mann blieben beide mäuschenstill sitzen, so dass mir das Zeichnen sehr viel Freude machte. Beide Mädchen trugen lange Zöpfe, die ich in der Zeichnung besonders wirkungsvoll und nett fand. Aber auch hier äußerte die Mutter der beiden Kinder einen seltsamen Wunsch: „Bitte, Herr Künstler“ — sagte sie zu mir — „die Zeichnung gefällt mir ausnahmsweise gut, aber mich stören die langen Zöpfe meiner beiden Kinder. Können Sie sie nicht ohne Zöpfe malen oder ihnen eine andere Frisur geben? Wissen Sie, so mit einem schönen Pony?“ Das war mir denn doch noch nicht passiert! Ich sagte der Frau, am besten schicke sie ihre beiden Kinder doch zu einem Friseur und lasse von ihm die ihr genehme Frisur vornehmen. Wir mussten alle lachen; selbst der Großvater, ein sehr alter Herr, der die ganze Zeit meinem Zeichnen ruhig zugesehen hatte, lachte laut auf und meinte: „Aber warum denn so unnatürlich! Die Kinder sehen doch jetzt nun mal so aus, und ich finde sie auf der Zeichnung so schön echt, als ob sie lebten.“
Aber die Mutter wollte einfach eine andere Frisur auf dem Bild haben und ließ sich von ihrer einmal gefassten fixen Idee nicht abbringen. Selbst das gut gelungene fertige Bild vermochte ihren Starrsinn nicht zu ändern. Da kam mir plötzlich eine Idee. Ich sagte ihr, sie habe doch bestimmt ein Heft mit, in dem Frisuren abgebildet seien. Oh ja, meinte sie, und das wäre auch ein glänzender Einfall von mir. Sie hatte sehr schnell ein solches Heft zur Hand, blätterte es durch und sagte schließlich, energisch bestimmend, indem sie auf eine Frisur wies: „Diese!“ und so geschah es denn.
Die beiden braven Mädchen taten mir aufrichtig leid; denn sie durften sich nicht einmal mucksen. Wie ich es dann fertiggebracht habe, den Wunsch der Mutter zu erfüllen und sie mit der neuen Frisur zufriedenzustellen, weiß ich heute nicht mehr. Die Gesichter der Mädchen, die sehr viel Ausdruck hatten, waren mir sehr gut gelungen. Aber die fremdartig gewünschte Frisur entstellte die Zeichnung. Jedoch — was wollte ich tun! Die Mutter jedenfalls war von der neuen Zeichnung sehr begeistert.
Später hatte ich noch einmal Gelegenheit, meine Zeichnung wiederzusehen. Sie hing gerahmt an der Wand. Nach einigen Jahren hörte ich dann von einem Bekannten, dass eines der beiden Mädchen plötzlich gestorben sei.
Der „Richter“ und die „Tänzerin“
An einem Winterabend besuchte mich ein Herr mittleren Alters mit seiner Tochter im Atelier. Das Mädchen machte auf mich den Eindruck einer angehenden Ballett-Tänzerin. Beide wünschten gemalt zu werden — die Tochter im Ballettkleid, wie ich es mir gedacht hatte, und der Mann in einem anderen theatralischen Aufzug.
Ich willigte ein und bestellte zunächst den Mann für einige Tage später in mein Atelier. Er kam pünktlich und verwandelte sich mit einigen Griffen in einen Richter. Ich dachte mir, als ich ihn sah: Eigentümlicher Zeitgenosse, warum so unnatürlich? Ich malte sein Bild in drei Sitzungen. Es war genau sein Ebenbild, aber er war wütend, als er es sah. „Mensch“ — sagte er — „Sie haben mich ja wie einen Gauner gemalt! Das Bild nehme ich Ihnen nicht ab, so ähnlich es auch sein mag.“
Das Bild blieb also in meinem Besitz. Später kam dann der Mann mit seiner Tochter im Ballettkostüm. Sie war meines Erachtens — wie ihr Vater — ein ziemlich aufgeschraubtes, unnatürliches Ding. Sie in der Stellung zu malen, wie sie es wollte, wäre einfach lächerlich gewesen. Ich malte sie deshalb einfach so, dass der Eindruck einer Ballett-Tänzerin auch wirklich entstand. Sie und ihr Vater waren — zu meinem wirklichen Erstaunen — mit diesem im Ausdruck und auch in der Farbe recht gut gelungenen Bild sehr zufrieden.
Einige Monate später traf ich in einem Cafe einen Bekannten, der von diesen beiden Bildern wusste und auch den Mann kannte. Ich war deshalb neugierig, aus seinem Munde einiges über den von mir gemalten Mann zu erfahren, und ich hörte auch Erstaunliches über seinen wahren Charakter. Er sei wirklich ein alter Gauner und Betrüger, der viele Menschen — und auch ihn — geprellt und betrogen habe. Ich dachte unwillkürlich an meinen ersten Eindruck, den ich bei meiner allerersten Begegnung mit diesem Mann hatte. Aber warum er sich als Richter oder Staatsanwalt malen ließ, blieb mir bis heute ein Rätsel.
Die Landschaft in Grün
Von einem sehr kunstliebenden Theaterbesitzer erhielt ich einmal den Auftrag, ihm eine niederrheinische Landschaft monochrom zu malen, also nur in einer einzigen Farbe; und zwar in Grün, das er so liebte. Als ich ihm das fertige Bild abliefern wollte, befand er sich in der Gesellschaft mehrerer Herren. Nachdem er sich das Gemälde betrachtet hatte, sah er mich ganz vorwurfsvoll an und sagte: „Mensch, Sie haben das Bild ja in Rot gemalt, und ich habe es doch in Grün bestellt.“ Erst glaubte ich, er sei farbenblind oder er treibe seinen Scherz mit mir. Aber dann merkte ich doch an seinen Gesichtszügen, dass er es wirklich ernst meinte. Da hielt ich ihn zunächst für verrückt und wollte schon etwas sagen. Aber in diesem Augenblick zwinkerte mir einer der anwesenden Herren mit dem Auge, und ich verstand ihn. „Nehmen Sie das Bild nur ruhig wieder mit“, sagte der Theaterbesitzer zu mir, „und malen Sie es nochmals.“ Und damit war ich verabschiedet.
Vier Wochen später brachte ich ihm erneut das Bild, ohne auch nur einen einzigen Strich daran geändert zu haben. Als er es sah, meinte er: „Großartig — jetzt haben Sie es richtig gemalt.“ Und war’s zufrieden. Der Herr, der mir damals den Wink mit dem Auge gegeben hatte, sagte später zu mir, so treibe der Theaterbesitzer es sehr oft mit den Leuten, weil er daran seine helle Freude habe.
Landschaften und Städte
Erlebnis Italien
Italiens Hauptstadt Rom erlebte ich 1950, als ich in der Ewigen Stadt weilte, um die großen italienischen Kunstmuseen kennenzulernen. Es war das „Heilige Jahr“ der Katholischen Kirche, und im Express reiste mit uns eine ganze Anzahl prominenter Gäste. Als unser Zug auf einem Außenbahnhof Roms ankam, hatten sich dort auch zahlreiche Wochenschau-Reporter eingefunden, deren Kameras uns beim Aussteigen surrend empfingen.
Meine Unterkunft befand sich im alten Stadtteil von Rom, ganz in der Nähe des Tiber. Es war ein riesiges Haus. Dort wurden, wie ich später erfuhr, die Offiziere der Päpstlichen Garde ausgebildet. Ich bewohnte ein einfaches, aber sehr sauberes Zimmer in der ersten Etage.
Nach ungefähr zwei Stunden klopfte es an meine Tür. Zwei Journalisten, bewaffnet mit einer großen Kamera, betraten den Raum und baten um ein Interview. Ich erzählte ihnen von meinen Plänen in Rom. Aber dabei hatte ich den Eindruck, als wären sie schon teilweise informiert. Denn als ich ihnen sagte, ich sei nach Rom gekommen, um die großen italienischen alten Meister zu studieren und auch viele antike Kunststätten zu besuchen, meinte einer der Journalisten ganz beiläufig: „Wir haben gehört, dass Sie hier auch malen wollen.“ Und als ich fragte, woher sie das alles wüssten, lachten beide nur. Sie machten eine ganze Reihe von Aufnahmen, bedankten sich sehr und verabschiedeten sich schließlich freundlich, indem sie mir ein gutes Gelingen meiner Pläne wünschten. Einige Tage später erhielt ich von ihnen Exemplare ihrer Zeitungen, in denen ich neben meinem Bild einen Bericht mit Zitaten aus unserer Unterhaltung entdeckte.
Ich besuchte unterdessen, meinem Plan entsprechend, Museen, historische Stätten und Kunstsammlungen. Ich erlebte das gewaltige Bauwerk der Engelsburg, das bei hellem Mondlicht auf mich einen geisterhaften Eindruck machte. Die ersten Begegnungen mit frühchristlichen Katakomben und ihr eigenartiger dämonenhafter Schein wie aus einer Zauberwelt wurden für mich zu den stärksten Erlebnissen meines römischen Aufenthalts. Diese Architekturen, entstanden aus der Zwangsläufigkeit ihrer Zeit, erweckten in mir die geistige Vorstellung von den kultusbildenden Leistungen dieser Menschen, die hier aus ihrem religiösen Impuls heraus unterirdische Stätten schufen, in denen sie sich vor ihren Verfolgern geborgen fühlten.
Das Erlebnis dieser frühchristlichen Epoche mit ihren gewaltigen magischen Kräften ließ vor meinen Augen das Urdrama dieser vergangenen Welt lebendig werden. Diese vor den Zeiten der modernen Technik gebauten geheimnisvollen Gänge mit ihren Totenmulden, tiefliegenden Brunnen und Kapellen gaben mir die Vorstellung einer großen Bühne voll magischen Charakters. Sie wirkten wie ein Reich der Geister, wie ein Gespenster-und Lichttheater. In einem solchen Licht entstanden — von Künstlerhänden geformt — herrliche, noch heute sehr gut erhaltene Fresken, Malereien, die mir die Impulse der aus Gemeinsamkeit und Zwang dort unten Lebenden offenbarten. Die Verwitterung dieser Bilder zeigte Anzeichen eines Expressionismus und Impressionismus.
Der Besuch der Sixtinischen Kapelle im Vatikan war für mich ein besonderes Erlebnis. Dort sah ich zum ersten Male das Riesenwandbild des „Jüngsten Gerichts“ von Michelangelo — ein einmaliges Werk von tiefergreifender Schönheit, darin sein Selbstbildnis, auf dem er sich die Haut von seinem Gesicht zieht. Ich betrachtete lange voll Demut und Andacht diese einmalige Aussage eines Titanen der Kunst und war wie von einer neuen Kraft gestärkt.
Auf meiner weiteren italienischen Studienreise besuchte ich Assisi, die sehr hoch gelegene Bergstadt von starkem künstlerischen Reiz. Hier blieb ich einige Tage und malte Menschen, Tiere und Landschaften. Einige Tage später erlebte ich Pisa mit seinem schiefen Turm. Der kleine Bahnhof hat Marmorbänke, die im Sommer erfrischende Kühle und Ruhe geben. Vom Bahnhof aus erblickte ich schon das gewaltige Bauwerk. Diese Architektur hat etwas Seelenvolles, was durch die Wucht und Form besonders stark zum Ausdruck kommt. Ihre klassischen und historischen Parallelen beeindruckten mich besonders nachhaltig. Es kam mir vor, als ob dieser Bau organisch aus dem Boden gewachsen wäre und die vitale Quelle der damaligen schöpferischen Impulse symbolisiere durch jene Stilbemühungen, die jedem antiken Kunstwerk eigen sind.
Als ich später noch das Meer und einige kleinere Orte voll malerischer Schönheiten besuchte, lernte ich einen englischen Maler kennen und verbrachte mit ihm einige schöne Tage. Er war schon mehrere Male in dieser Landschaft und malte mit besonderer Vorliebe ihre Motive, die auch mich stark ansprachen: zusammengeschachtelte farbige Häusergruppen und den wundervollen blauen Himmel ohne jegliche Wolkenbildung. Übrigens konnte ich diese hier gemalten Bilder einige Jahre danach in einer Kollektivausstellung zeigen, die mir die englische Stadt Portsmouth ausrichtete.
Kunst formt sich aus Traum und Erinnerung, berührt und erforscht die Geheimnisse der Natur. Durch magische Kräfte des Malers wachsen künstlerische Harmonien zur Einheit zusammen und zaubern eine geistige Welt mit paradiesischer Schönheit hervor. Südliche Landschaften haben heute für mich deshalb nicht mehr den großen Reiz und die bannende geistige Kraft, mich wie bei meinem ersten Besuch in ihren Bann zu schlagen. Die Vibration des Lichtes verwischt in meiner Gestaltungskraft die Gewalt des Dramatischen und bringt die künstlerische Handschrift nicht zur großen Entfaltung.
So habe ich es auf meiner letzten Studienreise 1963 nach Sorrent — im Gegensatz zu früheren Studienreisen in den Süden — beim Malen besonders deutlich empfunden: Es blieben recht ausdruckslose Eindrücke, die mich nicht befriedigten, die mich im Gegenteil stark entmutigten und mir jede Kraft zum eigenen Gestalten nahmen. Immer wieder versuchte ich, es mir als Einbildung auszulegen. Aber nach zweimonatigem Aufenthalt gab ich das Malen einfach auf. Mit einer nur kümmerlichen Ernte kam ich diesmal wieder nach Deutschland zurück.
Während dieser letzten Studienreise besuchte ich auch Ravello, jenen Ort, in dem Wagner einige Kompositionen seines Parsifal schrieb. Es ist die einzige Gegend, in der ich eine echte künstlerische Inspiration empfand. Diese Landschaft hatte auf mich eigenartige Ausstrahlungen. Das Licht und die Berge, umwebt vom geheimnisvollen Zauber starker Wolkenbildungen, regten meine Phantasie so sehr an, dass hier mehrere Selbstbildnisse zu meiner Zufriedenheit entstanden. Ich hatte den Eindruck, nicht mehr in Italien zu sein.
In Ravello erlebte ich zum ersten Male in Italien Wolkenbildungen von ungeheurer dramatischer Kraft und großer Schönheit. An diesem kleinen unscheinbaren Ort war an diesem Tage die Luft voll Musik, deren Töne mir bis dahin völlig unbekannt waren. Erst später erfuhr ich auch, dass hier Richard Wagner einige Zeit gelebt hatte. Die Landschaft Ravellos wirkte auf mich wie ein noch nie gesehenes Bühnenbild voll szenischer Dichte. Ich besuchte auch Ischia, Capri und Amalfi, ohne dass mir besondere Eindrücke blieben. Das herrlichste Erlebnis waren die Meerfahrten, war das Tanzen der Wellen, die mich an die unvergesslichen Tänze der Anna Pawlowa erinnerten. Ich fuhr über eine Landschaft, die ich zuvor auf der Hinreise vom Flugzeug aus gesehen hatte, von der meine Phantasie außerordentlich beeindruckt und angeregt worden war. Diese Welt von oben erschloss mir neuartige Formen und Farbgebilde — jetzt, da ich sie auch vom Wasser her erlebte.
Mein Besuch galt auch dem Vesuv. Für mich brachte er nur kleine Eindrücke; übrigens rollte mir bei einem kräftigen Windstoß mein geliebter Panamahut im hohen Bogen auf Nimmerwiedersehen vom Gipfel ins Tal hinab. Der Besuch von Pompeji dagegen wurde für mich zu einem nachhaltigen Erlebnis. Ich atmete angesichts der Ausgrabungen wieder wie vor einem Jahrzehnt in Rom, die Luft vergangener Kulturen, von der noch heute die ganze Welt voll Ehrfurcht und Achtung spricht. Ich sah herrliche Fresken, vor allem die in der Villa der Geheimnisse. Ein starkes seelenvolles pompejanisches Rot voll Geist und bezaubernder magischer Kraft fesselte mich. Die Farben waren noch fast so erhalten, als seien sie erst vor kurzer Zeit gemalt. Ich sah Menschenkörper, die vor zwei Jahrtausenden von den hereinstürzenden Lavamassen des plötzlich ausbrechenden Vesuvs überrascht worden waren und die letzten Minuten ihres schrecklichen Todes offenbarten. Sie lagen noch genauso da wie in jener Schreckensnacht: Ein Anblick und zugleich ein ungeheuerlich dramatisches Erlebnis, das ich wohl nie vergessen werde. Ein Anblick, der mir meine Seele aufriss — das war Pompeji.
Angesichts der einmaligen Kunst habe ich erkannt, wie viel ich noch selbst an mir arbeiten muss, um auch nur einen Bruchteil von dieser großen geistigen künstlerischen Kraft zu erreichen, die sich in den Werken der damaligen Künstler ohne jede akademische Schulung offenbart. Aber noch einen anderen wichtigen Eindruck hat mir Pompeji hinterlassen: Die damaligen Maler konnten nur aus Ehrfurcht und aus großer Liebe zur Kunst solche Wunderwerke schaffen.
Unter jugoslawischem Himmel
Ein Kunsthistoriker, der von mir Anfang der fünfziger Jahre einige Bilder erworben hatte, veranlasste mich zu einer Reise nach Jugoslawien, und zwar nach Istrien, dieser entzückenden Adria-Halbinsel. Nach mühsamer langer Bahnfahrt kam ich in den späten Nachmittagstunden in 0. an. Es war Juli, so dass dort trotz bewegter See eine recht große Hitze herrschte. Zwei jugoslawische Maler, der eine von ihnen Professor, waren bereits von meinem Kommen unterrichtet und hatten mir ihre Ateliers gerne zur Verfügung gestellt. Beide bewohnten romantische Villen, umgeben von Zitronen- und Bananenstauden, in L. Ihre Ateliers hatten die Atmosphäre eines Kunsthändlers.
Unterkunft fand ich in einem schmucken weißen Haus mit Vor- und Hintergarten. Der rückwärts gelegene Garten, von roter Erde und mit Palmen- und Feigenbäumen bestanden, glich einem subtropischen kleinen Wald. Mein Zimmer hatte Ausblick auf das unendlich scheinende blaue Meer. Ich fühlte mich hier sehr wohl. Das Zimmer war groß, die Aufgänge mit farbigen roten Läufern belegt, weiße Marmortreppen führten ins Haus. Es herrschte eine Ruhe wie in einer Kirche. Schon am ersten Tag machte ich Studien vom Dachgarten des Hauses herab. Die Landschaft war pastellartig voll farbiger Schönheit und von intimem Glanz. Ich besuchte meine beiden Malerkollegen und wurde sehr herzlich aufgenommen. Der eine malte modern gegenständlich; der andere, der Professor, war von der alten Schule.
Der Professor, ein sehr liebenswürdiger Mensch von mittelgroßer Gestalt, war im früheren Heer Major gewesen. Er malte heute überwiegend jugoslawische Motive mit pastellartigen Farben, aber auch Aquarelle und Ölbilder meist in kleineren Formaten, die recht beachtet und auch gut gekauft wurden. Meine Malerei war für ihn eine ganz andere Welt. Er war aber von meiner Farbigkeit sehr angetan und sah sehr interessiert meinen Experimenten zu. Wir schlossen rasch eine gute Freundschaft und waren fast täglich zusammen.
Der andere Maler war groß von Statur und von kräftigem Körper. Früher, so erzählte er mir, war er Gartenbau-Ingenieur. Aber er habe schon als Kind Maler werden wollen und es dann, wenn auch erst als Erwachsener, nachgeholt. Seine Malerei war kühn, farbiger, umrandet mit schwarzen Konturen. In seinem Atelier malte ich einige Bilder. Er und seine Frau waren sehr gastfreundschaftliche natürliche Menschen.
Ich blieb mehrere Wochen an der istrischen Küste und besuchte die beiden Malerfreunde wieder, als ich zwei Jahre später erneut dort hinkam. Stets kehrte ich mit einer reichen malerischen Ausbeute nach Deutschland zurück. Während meines Aufenthaltes in Istrien lernte ich eines Abends bei einem Glas Wein einen alten Herrn kennen. Es war der dort sehr bekannte und geachtete ehemalige Kapitän Cassa, ein kleiner wohlbeleibter Mann mit sehr feurigen stechenden Picasso-Augen. Er sprach fließend sieben Sprachen; denn er hatte während seiner vielen Seefahrten fast die ganze Welt gesehen. Früher besaß er fünf Häuser an der Adria; jetzt wohnte er in einem noch recht ansehnlichen Haus in der Altstadt, in dem er mit einer Katze ganz allein hauste. Das richtige Leben, so sagte er mir einmal, habe er eigentlich von seiner Katze gelernt: Erst essen und dann hinlegen und schlafen. Er schlief in einem Metallbett, das zwei Meter breit war.
Der Kunst gegenüber war Kapitän Cassa sehr aufgeschlossen. Als er hörte, ich sei Maler, lud er mich sofort in sein Haus ein und wir verbrachten manchen gemütlichen Abend beim Wein und in heiteren Gesprächen. Er hatte sich einmal sogar ein Auto gebastelt, aber den Wagen an einem schönen Sommerabend, als er mit einem Freund etwas angetrunken war, am Strand ins Meer gefahren. Zuerst, so erzählte er mir, habe er damals seinen Freund gerettet, der erhebliche Schlagseite hatte, und dann sich selbst. Das Auto habe man erst am anderen Tag aus dem Meer gezogen, aber es sei leider nicht mehr zu gebrauchen gewesen.
Kapitän Cassa war ein Original, voll Güte und Menschlichkeit. Eines Tages sagte er zu mir: „Du kannst hier bleiben. Ich bin schon alt. Ich schenke dir mein Haus mit allem drum und dran! Denn ich habe ja doch keine Erben.“ Er war sehr traurig, als ich wieder nach Deutschland fuhr, und ich musste ihm in die Hand versprechen, im nächsten Jahr wiederzukommen und in seinem Haus für immer zu wohnen und zu malen. Als ich dann nach zwei Jahren wieder nach Jugoslawien kam, war er bereits gestorben. Was aus dem Haus geworden ist, weiß ich nicht. Das einzige Andenken, das mich immer an Kapitän Cassa erinnert, ist ein alter Tropenhelm, der ihn auf seinen Weltreisen begleitet hat. Er hatte ihn mir mit einer Weltkarte, die seine Widmung trug, als Zeichen seiner Freundschaft geschenkt.
Ich wanderte viel in der Landschaft, fuhr auch zur Insel Rab und suchte immer neue Motive. Bei meinen Spaziergängen entdeckte ich in einer sehr alten Kirche in L. eines Tages herrliche, noch gut erhaltene Fresken mit biblischen Darstellungen in wundervollen Farben. Ob das Gemälde schon entdeckt worden war, weiß ich nicht. Denn zwei Jahre später war es noch in gleichem Zustand, in dem ich es beim erstenmal gesehen hatte. Dann sprach ich mit dem Bürgermeister und bat ihn, doch dafür zu sorgen, dass die Fresken freigelegt würden, was schließlich zu meiner Genugtuung und sicherlich zur Freude vieler späterer Besucher auch geschah.
Bei meiner zweiten Jugoslawien-Reise besuchte ich übrigens mehrere Orte in der Umgebung. Dabei fiel mir auf, dass fast alle Kirchen, auch die alten, in tadellosem Zustand waren. In vielen entdeckte ich sehr gut erhaltene Mumien, die angeblich noch aus der Zeit der Christenverfolgung stammten. Teilweise trugen sie die Kleidung ihres Jahrhunderts. So sah ich einen Schädel, der durch einen Säbelhieb gespalten war.
Ich besuchte auch das Karstgebirge. Es war eine Welt wie zu Anfang der Schöpfung — keine Vegetation, nur kahles Gestein. Wir fuhren stundenlang durch diese trostlose Landschaft, uns begegnete kein einziger Mensch. Wir befuhren dabei die höchsten Pässe verschiedener Gebirgszüge. Unter uns lag oft das ewig blau-grüne Meer — ein herrlicher Anblick für einen Maler. Am Horizont konnten wir eines Tages bei klarem Wetter sogar die Umrisse der italienischen Küste in der Nähe von Venedig wahrnehmen.
Die Wolken lagen oft tief unter uns und hatten bezaubernde Formen — Formen von Menschen, Tieren und sonstigen interessanten Gebilden. Eigenartige Geräusche klangen an unser Ohr wie ferne Musik. Dieser Eindruck ist unvergesslich. Später besuchte ich die Plitvitzer Seen, achtzehn übereinander. Die herabfallenden Wassermassen sprudelten voll Lebenskraft.
Einer meiner letzten Besuche galt den Adelsberger Grotten, den zweitgrößten der Welt. Diese Grotten liegen in dämonenhaftem Schein trotz ihrer künstlichen Beleuchtung. Wir bestiegen einen Liliputzug und fuhren hinein. Nach zehn Minuten langer Fahrt sahen wir uns in einen riesengroßen Saal mit herrlichen Kronleuchtern versetzt. Von oben herab hingen die Stalaktiten, von unten nach oben wuchsen die Stalagmiten. Wir wanderten auf Anhöhen in den Grotten, unter uns kleine Seen von dunkelfarbiger Schönheit. Welch herrliche Figuren hatte die Natur hier im Laufe der Zeit geformt, Plastiken — vom Naturalismus angefangen bis zur Abstraktion. Hier empfing mich erneut ein Hauch vom Geheimnis einer vollendeten Kunst, von schöpferischen Werken in nie gesehenen Farben und Formen. Gebannt stand ich unter dem Eindruck dieses einmaligen Erlebnisses.
In Südfrankreich und Spanien
Fast vier Monate lang konnte ich Studien in Südfrankreich und Spanien nachgehen. Früh morgens waren wir mit dem Kraftwagen Richtung Eifel gefahren. Es war ein sehr sonniger Tag. Bald befanden wir uns in Luxemburg, einem herrlichen Fleckchen Erde. Gegen Abend waren wir in Namur und übernachteten in einem alten Kloster in einem Zimmer, das ganz in Rot ausgestattet war. Schon hier entstanden in den frühen Morgenstunden erste Studien. Nach dem Besuch einiger kleiner Ortschaften erreichten wir das Städtchen Nougat und schließlich die zauberhafte Landschaft von Montpelier. Dieses Land hat es mir besonders angetan. Hier entstanden eine Reihe von Bildern voll Sonne und Farbigkeit. Während meines Aufenthaltes lernte ich einen französischen Maler kennen, der mich in sein Atelier einlud. Er malte eine leichte Atmosphäre, die mich an den Engländer Turner erinnerte. An meiner Malerei zogen ihn, wie er sagte, vor allem immer wieder die Farben an, die er sogar mit der Lupe betrachtete.
Nachdem auch in einigen anderen Orten eine ganze Anzahl Studien entstanden waren, blieben wir kurz vor der spanischen Grenze in einem kleinen Ort am Meer. Jeden Morgen entdeckte ich neue Motive von eigenartiger Schönheit und Farbe. Mit meiner reichen Beute aus Frankreich war ich schon sehr zufrieden. Aber da meine Lust zu malen noch nicht befriedigt war, wurden aus den vorgesehenen vier Wochen deren sechs. Ich war froh, auf diese Studienreise reichlich Material mitgenommen zu haben. Sonst wäre mir der wunderbare farbige Eindruck nicht so gut gelungen. Auch das Meer zeigte sich an manchen Tagen in besonders reizvollem Licht. Die stetig anrollenden Wellen wirkten wie Balsam auf meine Nerven, zumal das Malen an diesen heißen Tagen sehr anstrengend und ermüdend war. Auf der Weiterfahrt erlebten wir übrigens einen mit Worten nicht zu beschreibenden schönen Sonnenuntergang voll fesselnder Farbigkeit und glühender Wärme.
An einem frühen Morgen betraten wir dann spanischen Boden. Und gegen Abend kamen wir in unserem Zielort an, einem kleinen Städtchen mit weißen maurischen Häusern. Auf der Straße vor unserem Hotel tanzte eine Gruppe von Mädchen und Jungen in den eigenartigen Kostümen dieser Landschaft zu lebhafter spanischer Musik. Die Gesichter der Tanzenden waren bemalt. Wir nahmen dieses Ereignis als freundliche Begrüßung und festlichen Empfang dankbar an. Als ich am anderen Morgen nach einem guten Schlaf erwachte, sah ich in hundert Meter Entfernung von meinem Fenster auf riesige Palmen und dahinter auf die See. Es war eine Freude und Begeisterung zugleich.
Den ersten Tag verbrachten wir am Meer. Es waren schöne Stunden der Entspannung. Ich kaufte mir einen großen Hut, um gegen die sehr heiße Sonne geschützt zu sein. Am zweiten Tag aber begann ich schon früh mit meiner Motivjagd. Als erstes entdeckte ich einen hoch auf einem Berg gelegenen interessanten Friedhof. Die hier bestatteten Toten waren überwiegend eingemauert. Der Ausblick über die Landschaft zum Meer war bezaubernd. Die Ruhe gab mir Kraft zum Malen; denn überall, wo mein Auge hinschaute, boten sich herrliche Motive mit wechselndem Farbenlicht. Am späten Nachmittag kam ich mit vielen Studien ins Hotel zurück; nebenbei — man hatte mich schon vermisst. Der Abend endete bei gutem Wein in fröhlicher ausgelassener Gesellschaft mit südspanischen Tänzen und Musik; denn das bedienende Personal war in Sevilla beheimatet.
Ich lebte mich sehr schnell in dieses wunderbare Paradies ein. Neben unserem Hotel befand sich ein kleiner Gasthof, mit dessen Inhaber ich bald Freundschaft schloss. Es war ein sehr sympathischer Herr und zu jeder Gefälligkeit für mich bereit. Manchmal überließ er die Führung seines Gasthofes einfach seiner Frau und begleitete mich, wenn ich in die Landschaft wanderte und neue Motive suchte. Er konnte mir stundenlang zusehen, ohne auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Jedes Mal aber nahm er eine Flasche guten Weins mit, und wir stärkten uns nach gehabter Mühe.
In dem kleinen Ort war ein einziger Polizist stationiert, dazu noch ohne Waffe. Eines Tages traf er mich am Ende der Ortschaft, als ich eben baden wollte, und drückte mir einen kleinen Zettel in die Hand, der in drei Sprachen geschrieben war. Ich wollte ihn schon ungelesen in meine Tasche stecken, als er ihn mir fortnahm und mich aufforderte, ihn auch zu lesen. Ich las und meine Augen wurden immer größer; denn sein Inhalt lautete: „Sie sind unsittlich bekleidet. In dieser Ortschaft ist es polizeilich verboten, sich mit einer kurzen Hose, welche die Knie nicht bedeckt, öffentlich zu zeigen.“ Ich musste zwar unwillkürlich lachen, dachte dabei aber auch daran, dass mir ähnliches schon einmal in Italien mit Besuchern einer Kirche aufgefallen war. Der spanische Polizist lachte mit und gab mir durch Handbewegungen zu verstehen, er selbst habe das nicht angeordnet, sondern „die da oben“. Auch wir beide wurden gute Freunde. Ich erinnere mich noch, als er zum erstenmal hörte, ich sei Maler, dass er stramme Haltung annahm und sagte: „Deutsche immer gut und in Spanien herzlich willkommen.“
Wir Deutsche waren damals überall an der spanischen Küste gern gesehene Gäste. Da wir bescheiden und anspruchslos waren, wurden wir besonders liebevoll betreut und behandelt. Unsere Bedienung im Hotel bestand aus sehr temperamentvollen spanischen Frauen, die ihre Arbeit verstanden, aber auch hervorragend singen und tanzen konnten. Mit ihrer Kunst haben sie uns manchen Abend verschönert.
Im Hotel lernte ich eines Tages einen schwedischen Schriftsteller und einen sehr lebhaften Filmregisseur kennen, die mich nach Barcelona zu einem Stierkampf einluden. Offengestanden, ich war von dieser Einladung nicht sehr begeistert, zumal allein schon der Gedanke an einen Stierkampf in mir Grauen hervorrief. Aber ich ließ es mir schließlich doch nicht anmerken, und so besuchten wir an einem sehr heißen Nachmittag Barcelona und sahen uns einen Stierkampf an. Für mich war es ein sehr schönes farbiges Bild, die bunte Kleidung dieser nach Tausenden zählenden Menge im großen Rund der Arena zu erleben. Aber ich war froh, als das grauenvolle Drama zu Ende war.
Um so mehr erfreuten meine Maleraugen die schmalen Gassen und Häuser der Altstadt, aus deren kleinen Lokalen spanische Klänge und Zigeunermusik ertönte. Hier erlebten wir — wie auch in anderen Lokalen — Tänzer und Tänzerinnen in sehr farbigen Kostümen mit Tänzen voller Charme und Wildheit. Trotz wiederholter Einladungen bin ich nie mehr zu einem Stierkampf nach Barcelona gefahren. Später habe ich aber mehrere Bilder unter dem Eindruck dieses Erlebnisses gemalt. Nach acht Wochen verließ ich Spanien um viele neue Erlebnisse reicher und kehrte mit einer stattlichen malerischen Produktion wieder nach Deutschland zurück.
In den Schweizer Bergen
Ich wohnte zunächst in Luzern. Es war herrliches Frühlingswetter, als ich dort eintraf. Meine Wirtsleute waren einfache, liebenswerte Menschen voll Humor. Von meinem Vorhaben wussten sie nichts. Eines Abends sagte mir die Frau des Hauses, ihr Sohn würde Malerei studieren, und als sie dann hörte, dass ich selbst Maler sei, war ihre Freude sehr groß.
Den Sohn selbst lernte ich dann einige Tage später kennen. Er war ein sehr ruhiger angenehmer Mensch. Ich bot ihm an, mit mir gemeinsam zu malen, worauf er sofort mit großer Freude einging. Da er die Gegend gut kannte, war es leicht, passende Motive zu finden. Er hatte schon drei Semester Kunstakademie hinter sich. Ich war erstaunt über seine Begabung und die Sicherheit des Urteils. Wir malten von morgens bis zum späten Nachmittag und brachten beide manche gute Arbeit mit nach Hause. Immer wieder malte ich den Himmel mit all seinen Herrlichkeiten und dazu die Berge verhältnismäßig klein, was ihn als besondere Eigenart ansprach und begeisterte. Auch seine Bilder hatten verklärende Ausstrahlungen und wirkten auf mich wie von einer gewissen Verwandtschaft mit Kokoschka, den er besonders liebte und verehrte. Insgesamt acht Wochen malte ich so in der Schweiz, und ich liebte das Land immer mehr, so dass in mir die Sehnsucht wach wurde, mich dort für immer niederzulassen.
Während dieses ersten Schweizer Studienaufenthalts wollte ich auch Professor Purrmann im Tessin aufsuchen. Aber aus diesem Besuch wurde leider zum vorgesehenen Termin nichts. Denn eine Erkältung machte mich für einige Tage bettlägerig, so dass ich nur verspätet ins Tessin fahren konnte. Der erste Eindruck, den die Landschaft auf mich machte, war besonders nachhaltig. Ihr südlicher Charakter mit all den wohlriechenden Düften bezauberte mein Herz. Ich beschloss, längere Zeit hier zu bleiben und tüchtig zu malen. Und ich bin heute noch froh, dass mir das damals auch möglich war.
In dieser wundervollen Landschaft sah ich Motive von vorher nie gesehenen Formen wie vorn Sonnengott geschaffen. Es war ein unvergleichlicher Zauber, voller Musik und Harmonie. Hier feiert noch die Landschaft an sich ihren Triumph, und ich versuchte, ihre Farbigkeit in meinen Bildern noch zu erhöhen. Die Schatten im launenhaften Tanz der Düfte riefen in mir manche neue Idee wach. Das goldgelbe Licht gab mir den starken Impuls, die Ausdruckskraft meiner Farben zu verstärken. Tag und Nacht begleiteten mich diese Einflüsse und erweckten in mir Träume, so dass ich selbst noch mit geschlossenen Augen die wundervollsten Farben sah. An den Berghängen malte ich Blumen von lindern Wohlgeruch. Der kühlfarbige Hintergrund und das warme Grün des Bodens machten das Bild farbiger und gelöster und steigerten die Komposition zur erwachten Unendlichkeit, zum musikalischen Klang von Friede und Klarheit. Hier verbanden sich Geist und Natur zu geprägten Anregungen. In dieser Welt mit ihren unendlichen Gefilden entstand eine neue Regie meiner Bilder. Der Niederschlag dieser allbeseelten Landschaft verlieh meinem Schaffen eine neue Lebenslinie von vergeistigter Anschauung.
Watzmann — Berg meiner Träume
Auch ein anderer meiner Malerträume erfüllte sich: Ich sah den Watzmann mit seinen sieben Kindern. Es war ein gewaltiger Anblick, als ich ihn zum erstenmal im Berchtesgadener Land vor mir liegen sah.
Ich wollte hoch oben auf den Bergen malen; denn von dort bot sich mir ein herrlicher Ausblick in das weite Land bis nach Osterreich hinein. Auf dem Roßfeld entdeckte ich eigenartig geformte Steine, die mich an die Plastiken in der Adelsberger Grotte in Jugoslawien erinnerten. Auch hier hatte die Natur Gebilde voll reizender Formen und von großer Schönheit geschaffen.
Von oben bot sich meinen Augen eine festliche Landschaft voll schöner Farben. Auch hier war mir der sich im Unendlichen verlierende Ausblick ins Tal ein festliches Erlebnis. Mit ein paar Lokalfarben hatte ich diese Stimmung rasch eingefangen. Es war wie ein Spiel, so dass mir die farbige Leuchtkraft eines Sommertages fast zu einem Kinderbilderbuch wurde. Rot, Grün, Blau und Gelb begannen auf dem Papier zu leben. Alles glich einem farbigen Teppich voll vibrierender Aktivität. Denn auch hier versuchte ich, eine eigene Klangfarbe zu erreichen.
In der Stadt Mozarts
Nach vier Wochen verließ ich Berchtesgaden und landete im schönen Salzburg. Diese romantische Stadt mit ihren engen Gassen und ihren originellen Sehenswürdigkeiten gefiel mir außerordentlich. Hoch oben auf Hohensalzburg, einer kleinen Stadt für sich, malt Oskar Kokoschka in den Sommermonaten. Der Burgverwalter, ein sehr liebenswürdiger Herr mit viel Charme, zeigte mir sämtliche Denkwürdigkeiten.
Im Salzburger Dom, der mit herrlichen Wandgemälden ausgestattet ist, erregte ein großes Kirchenfenster mein besonderes Interesse wegen der wundervollen Leuchtkraft seiner Farben, ein bedeutendes Dokument mittelalterlicher Kunst. Immer wieder zog es mich zu diesem Fenster voller Heiligkeit und Glanz. Solchen Farben war ich noch nicht begegnet. Sie leuchten von innen. So wollte ich meine Bilder malen! — Wie glücklich war ich später, als mir das schließlich gelang.
Die Stadt selbst wirkte auf mich wie prickelnder Wein. Nicht zuletzt gaben die Atmosphäre der kleinen Weinlokale, die temperamentvolle Schrammelmusik und die Stimmung, die eine festliche Kerzenbeleuchtung abends zu geben vermag, meinem Leben neue Impulse zum Malen. In diesen heiteren Augenblicken und in einer Zeit voller Lebensfreude entstanden aus einer gewissen Spontaneität primitive Darstellungsformen. Die ruhige Klarheit des farbigen Aufbaus ergab die formale Komposition und brachte oft eine Veränderung des Landschaftshorizonts mit sich.
Gemaltes Abenteuer eines Lebens
Nachwort
Calmés sagt an einer Stelle seiner Selbstbiographie, er wolle durch seine Kunst die Menschen durch Schönheit und Harmonie glücklich machen — „durch flammende Farben, welche die Seele aufhellen und wie Kristalle leuchten“. In diesen Worten liegt das Programm, wenn man es so nennen will, dieses niederrheinischen Malers umrissen. Sein ganzes Werk — obwohl gemaltes Abenteuer eines Lebens am Rande des Chaos — hat auch in Zeiten menschlicher Abstürze dem Optimismus und der Bejahung des Geistigen im Irdischen gegolten. Ihnen dient es auch heute noch Tag für Tag.
Peter Calmés ist im Jahre 1900 in Duisburg geboren — in dem vor 35 Jahren eingemeindeten nördlichen Stadtteil Hamborn, der damals mit der Thyssenhütte als industriellem Zentrum selbst eine Großstadt war und zu seinen Söhnen mit Stolz auch Künstler wie den Maler Heinz Trökes und den Theaterregisseur Karl-Heinz Stroux zählt. In seinem Leben und Schaffen ist Calmés immer ein Einsamer gewesen und geblieben. Er hat sich nie um Richtungen in der modernen Malerei gekümmert, weil er sich nicht in die Zitadellen ihrer Doktrinen einsperren lassen wollte. Er malte sich selbst seinen Weg — zur eigenen leidbeladenen Freiheit.
Er ist keiner jener Maler, die heute so oft aus der Sicherheit des Formellen heraus die Fahne nach dem Wind hängen und die Zeitgenossen durch eine bizarre Mischung von Raffinement und Primitivität zu unterhalten, zu reizen und zu düpieren suchen. Man findet seinen Namen auch nicht in der langen Liste der Modemaler und Skandalhascher, die gegenwärtig in Paris, New York und London, aber auch in Deutschland mit ihrer etwa für Pralinenschachteln geschätzten Warenhauskunst en vogue sind. Von ihm kennt man keine „choreographischen Kompositionen“, nach Jazzmusik mit den Füßen gemalt. Auch dienten ihm keine ausrangierten Autos oder nackte, mit Farben bedeckte Mannequins dazu, großformatige Leinwände einzufärben, um diese dann von geschäftstüchtigen Managern mit der Elle gemessen verkaufen zu lassen. Calmés hat auch nichts gemeinsam mit Künstlern wie etwa den derzeitigen „neuen Realisten“, von denen eine ihrer Vertreterinnen als schlanke Diana im hautengen Dress und in schwarzen Reitstiefeletten vor ihrem Publikum mit dem Gewehr ihre „Bilder“ schießt oder ein anderer etwa ein in Cellophan verpacktes altes Fahrrad als Kunstwerk ernst zu nehmen fordert — Glänze‘ allesamt, die — selbst ohne eigenes Licht in sich — nur wie die Katzenaugen von Fahrrädern glühen und leuchten, solange sie von einer anderen Lichtquelle angestrahlt werden.
Ziel und Wirkung Calmés‘ — und welcher Maler würde, wie ein Dichter, ernstlich die Wahrheit sagen, behauptete er etwa, ihm liege nichts an Wirkung, nichts an Öffentlichkeit! — sind einzig diese: die volle seelische und geistige Leidens- und Erlebnisfähigkeit des Menschen aufzureißen, ihm Schönheit und Harmonie zu zeigen und zu bringen. Mittel dazu sind ihm in erster Linie neue Farbtafeln und Farbharmonien, die er nach seinen eigenen Gesetzen fand.
Peter Calmés ist Spätexpressionist, vor allem in seinen Landschaften. Ihre Leuchtkraft, die schon in sehr frühen Perioden seines Schaffens anklingt, schreit mit ihrer reichen Farbpalette oft geradezu auf. Dabei folgt er durchaus Maximen, die der von ihm hochverehrte Hans Purrmann in einem seiner vielen in Zeitungen und Zeitschriften verstreuten Aufsätze über Landschaftsmalerei aufgestellt hat, wenn er schrieb: „Es ist dem Maler nicht allein, wie mir scheint, an der Größe und Würde des Ausdrucks einer Landschaft gelegen, als daran, in unserer Zeit Aufgaben verfolgen zu können, welche die Malerei heute an uns stellt: Aus alten Formen der kulissenhaften Aufteilung des Landschaftsbildes herauszukommen und ein neues Landschaftsbild mit Farben und Formen zu gestalten, wie es die moderne Anschauung verlangt.“
Neben Rot, Blau und Gelb liebt Calmés vor allem das vergeistigte Violett — Farben, von denen er selbst sagt, sie seien „gemischt aus Freude, Melancholie und Trauer“. Seine Palette kennt viele Abstufungen der Farbtöne. Sein Rot, das er in Landschaften und Stilleben, in Tierszenen, aber auch bei seinen Akten so liebt, variiert von einer gleißenden Durchsichtigkeit bis zum brennenden harten Klang, den er für seine niederrheinischen Häuser und Katen bevorzugt. Dazu kommt das satte Rot eines Mohnfeldes oder der schüttere Ton eines von weinrotem Leuchten erfüllten herbstlichen Ackers — sie alle durch Neben-, Bei- und Gegenfarben in ihrem besonderen Charakter erhöht und verstärkt.
Sein Blau ist oft von einer beklemmenden und erschreckenden Härte und dann wieder — etwa im Obergang zum Violett eines vom Horizont her nur spärlich aufgehellten regenschweren niederrheinischen Abendhimmels —von einer satten Herbheit, wie man sie selbst in Bildern von Munch nur selten findet.
Sein Grün strahlt eine beruhigende Wärme. Es gibt von Calmés, der in seinen Bildern meist eine reiche Farbpalette liebt, seltsamerweise — so möchte man sagen — auch einige fast monochrom in Grün gemalte kleinformatige Seestücke, etwa mit einem leuchtend gelben Mond, die in ihrer hingehauchten Zartheit kaum noch eine Verwandtschaft mit seinen meist so farbglühenden Niederrhein-Landschaften ahnen lassen. In solchen Mondlandschaften offenbart sich die andere Wesensseite des Malers, der die Farben des Sommers und des Lebens liebt, der aber das kalte, trostlose Gelb etwa eines nordischen Winterhimmels nicht kennt: Er weiß um die inneren Geheimnisse des menschlichen Seins und zeigt immer wieder in seinen Bildern, dass die große Trauer Schwester und zugleich Mutter allen Lebens ist.
Die explosiven Farben der Bilder Calmés‘ vermitteln, wie bei seinem Freund Vlaminck, eine pathetische und zugleich lyrische Interpretation der Realität. Dabei hat auch er, was Goethe schon in seinen Gesprächen mit Eckermann als Wesenszug des echten Künstlers erkannte, die vollkommensten Bilder niemals in der Natur gesehen, sondern er verdankt ihre Komposition seinem eigenen Geist. Dies gelingt ihm um so glücklicher, als er seit Anbeginn seines Malerlebens — nicht zuletzt unter dem tiefgreifenden Erlebnis der Landschaft in den Niederlanden, in Südfrankreich und Jugoslawien — in die innersten Geheimnisse der Natur tief eingedrungen ist und ein Bild, ehe er es gestaltet, in sich selbst neu produziert. Durchdrungen von den Erkenntnissen der wunderbaren Wechselwirkungen von Erde, Meer und Luft erschließt sich ihm die ewige Bedeutung des Zuges der Wolken, der Formen der Ebene und des Gebirges, der Gestalt der Bäume und der Wogen des Meeres.
Bei Calmés schwebt alles, was in des Menschen Brust widerklingt — ein Erhellen und Versinken, ein Ertrinken und Auflösen, ein Bilden und Zerstören — in den Gebilden seiner Wolkenregionen vor unseren Sinnen. Dabei ruhen seine Bilder am Rande des Abstrakten, ohne jedoch die Natur zu liquidieren. Calmés hat so, vor allem in seinen jüngsten Gouachen, Landschaften geschaffen, die ihn zu einem der bedeutendsten Interpreten des Niederrheins werden lassen, die zugleich aber auch sein glückliches Auge für die Eigenarten der mittelmeerischen Landschaft zeigen — Werke, von denen man mit Carl Gustav Carus, dem Zeitgenossen Goethes, sagen könnte, dass sie zwar reine Naturbilder sind, dass in ihnen aber die Natur, mit geistigem Auge erschaut, in höherer Wahrheit erscheint. Die zu Höchstem gesteigerte Vollendung des Technischen verleiht den Bildern dabei einen Glanz, den man heute so oft vermisst.
Schon Erich Heckel hatte vor einem Menschenalter den freien sphärischen Raum neu entdeckt und erfasst. Damit ebnete er den Weg zu einer atmosphärischen Kunst, wie sie in Landschaften Breughels und in den Himmeln eines Caspar David Friedrich schon erkennbar war, wenn diese Künstler auch noch stark der reinen Abbildung und Nachbildung des Naturalistischen verhaftet blieben.
Auch in Calmés‘ Landschaften liegen wesentliche künstlerische Gewichte im oberen Teil des Bildes, dort wo die sphärischen Spannungen des Lichtes und der Wolken unmittelbar gestaltet sind. Nach abwärts, zum Festen der Erde hin, werden sie durchweg weniger stark gegliedert, indem sie gleichsam dem sphärischen Raum antworten. Gegenstände und Dinge sprechen dabei nicht so sehr durch ihre Form und Zeichnung als durch den Ausdruck und die Sinnwahl der Farben sowie durch die Strahlungskraft, die diesen innewohnt. Von Jahr zu Jahr, oft von Bild zu Bild erkennbar, wächst eine lodernde Farbkraft, die Calmés zu einem glühenden Koloristen werden lässt; seine Farbigkeit — in erster Linie in den Gouachen, aber auch in Ölbildern der letzten Jahre — gelangt dabei zu wahren Fanfarenstößen.
Calmés‘ Gouachen sind in der Tat, so will uns scheinen, in vieler Hinsicht der malerischen Weisheit unserer Tage letzter Schluss. „Das Wahre und Wirkliche in der Kunst“, so forderte Matisse, „beginnt erst dann, wenn man nicht mehr begreift, was man tut und was man kann, und dennoch eine Kraft in sich spürt, die um so stärker wird, je mehr man ihr entgegenwirkt und sie verdichtet.° Bei Calmés, dem wohl stärksten Vertreter des Spätexpressionismus der Gegenwart, ist dies schönste Wirklichkeit geworden. Alles, was sich zum Ruhm seines technischen und thematischen Reichtums sagen lässt, bewährt sich vor diesen intensiven und zugleich doch so intimen Zeugnissen eines geistreichen, kultivierten Malertalents fern jeder Maniriertheit. Von manchen Landschaftsbildern des Malers Calmés dürfte man später einmal ähnliches berichten, was Marcel Proust von seinem Helden in „Tod eines Dichters“ erzählt, der sich vor seinem Tode in eine Galerie schleppt, nur um noch einmal das Gelb einer Mauerecke auf einem Bild des Vermeer van Delft zu sehen. Nur dass es bei Calmés das Rot einer Niederrhein-Landschaft unter nachtblauem Himmel sein wird.
Hier reden die Dinge allein durch die geläuterte Reinheit und Klarheit der Farben. Dieses Rot lässt sich nur noch vergleichen mit der erschütternden, dem Maler so vertrauten Sprache der Musik in deren höchsten klassischen Werken, die ihn zu seinen besten Schöpfungen inspirierten. Hier offenbaren sich letzte Dinge — weltfern, unwirklich und geheimnisvoll und doch wesensnah zugleich. Der Maler übersteigt in solchen Bildern die Mauer menschlichen Erkenntnisvermögens und hebt einen Zipfel des weiten Vorhangs auf, der Irdisches und Oberweltliches für die große Masse voneinander trennt. Hermann Hesse hat in seiner „Wanderung“ den erfahrungstiefen Satz geschrieben: „Auf den Bildern guter Maler betet jeder Baum und jeder Berg.“ Von Calmés gilt dieses Wort wie von kaum einem anderen Maler.
Erinnern wir noch an die Menschen, die Calmés zeichnet — alte Männer und Frauen, Clowns, Tänzerinnen. Sie stehen oft wie in einer großen, schreckhaften Verlassenheit, eingeengt in ihren Raum, zur Maske geworden und zur Formel ihres Tuns. Von einem erschütternden Ernst und jener Glückhaftigkeit in seiner geheimen und verdeckten Tragik etwa ein Clown; er ist nicht mehr dieser oder jener, den er „spielt“, sondern die Macht der Maske hat sich des ihr dienenden Menschen bemächtigt und erhöht nur sein Opfer durch die Kraft einer fast feierlichen Selbstaufgabe.
Hier spiegeln sich die Erfahrungen eines langen Lebens des Malers wider — die harten Jahre der Kindheit und Jugend und seines besten Mannesalters im Deutschland der ersten Jahrhunderthälfte, über die Calmés in seiner Selbstbiographie so offen spricht. Was weiß die Gegenwart von den Gefährdungen und Verzweiflungen, denen sich der künstlerisch tätige Mensch gerade in diesem Jahrhundert ausgesetzt sah, von den Irrgärten und Fehlern —von den Fallen, aus denen man sich nur mühsam wieder herausfinden konnte, und von den Bedrängnissen, denen Maler etwa des vergangenen Jahrhunderts wenig oder überhaupt nicht ausgesetzt waren.
Das Wesen eines rechten Künstlers, so sagte einmal Carossa, bestehe darin, dass er schaffe und wirke, als sei er der letzte Mensch und als käme nach ihm keiner mehr, der ihn tadeln oder bewundern werde. In der Tat kann der Künstler nur arbeiten — Beifall lässt sich, wie Gegenliebe, zwar wünschen, aber nicht erzwingen. Das ist sicherlich eines der Geheimnisse der Einsamkeit eines Künstlers, die schon Leonardo als Voraussetzung von ihm forderte, „wenn er sich den Betrachtungen hingibt, die das Auge in Anspruch nehmen“.
Calmés ist ein Künstler, der aus innerer Notwendigkeit schafft. Er hat aber auch diese Einsamkeit oft erfahren. Die dreißiger Jahre, die Zeit seines beginnenden großen Schaffens, hinderten ihn an der verdienten und so notwendigen ersten Wirkung in die Öffentlichkeit. Kriegs- und Nachkriegszeit mit ihren ihn heute immer noch bedrängenden persönlichen Sorgen belasten Herz und Seele. Innerlich schwachen Malern hätte eine solche Last die Hand erlahmen und die Farbe eintrocknen lassen. Dass Calmés unbeirrt weiter tätig ist und ein reiches Werk in seine „Scheuer“ einbringen konnte — das übrigens heute noch weithin unbekannt ist —, reiht ihn in die Reihe der wahrhaft großen Künstler ein, die über die Zeit ihres Wirkens im Irdischen hinweg der Menschheit etwas zu geben und zu sagen haben. Nur nach und nach wird dem Kreis seiner Freunde und hoffentlich bald auch einer breiteren Öffentlichkeit der Schatz offenkundig, den Calmés in den Jahren der Mühsal angesammelt hat.
Der Maler Calmés ist keiner von den ewig Vibrierenden, sondern ein in sich ruhender Mensch und Künstler, dessen Lebens- und Leiderfahrungen sich in seinem Werk widerspiegeln, weil er selbst wahrhaft erschüttert werden kann. Seine Bilder lassen offenbar werden, dass er jenen festen Punkt außerhalb der Welt besitzt, um Gestalten und Geheimnisse ganz tief und unerbittlich klar zu sehen; „denn auf Erden lässt sich Erde nicht erkennen …“
„Das gewöhnliche Publikum“ — so hat schon Goethe geklagt — „liebt nur das Neue und an der ganzen Poesie und Kunst eben nichts als nur das Neue.“ Dass gar jemand ein paar Jahre schweigt, um sich für ein großes Werk zu sammeln, will erst recht niemand verstehen. Das Publikum ist in dieser Hinsicht leider dem Kernbeißer ähnlich, der eben nur den Kern verzehrt und das Fleisch selbst der schönsten Kirsche einfach wegwirft. Ist es da zu verwundern, dass so viele Künstler zu ihren Lebzeiten verkannt und unbeachtet dahinleben müssen, fast verzehrt von der Last ihres Lebens und der Notwendigkeit ihres Wirkens, dass sie die großen Wahrheiten oft aber erst aus dem Grabe heraus zu sagen vermögen?
Portoroz, Sommer 1963 cbh
Dieses Buch verdankt sein Entstehen in der jetzigen Form einer Anregung von Herrn Helmut Gemsheim, dem Gründer der Gernsheim Collection, jener einzigartigen Londoner Sammlung von Dokumenten zur Geschichte der Photographie. Schon bei einer ersten kleinen Biographie über Calmes hatte der bekannte Kunsthistoriker die Liebenswürdigkeit, den biographischen Text beizusteuern. Seinen Vorschlägen für eine Neuauflage ist der Herausgeber um so lieber gefolgt, als er im Verlauf der Vorbereitungen den Maler veranlassen konnte, seine eigenen Gedanken zu Fragen der Kunst und Malerei zu erweitern und auch um einen größeren autobiographischen Teil zu ergänzen. Der Herausgeber hofft, dass dieses Buch nicht nur auf einen leider noch zu wenig bekannten, bedeutenden Vertreter des Spätexpressionismus in Deutschland aufmerksam machen kann, sondern auch einen notwendigen Beitrag zur Historie des Spätexpressionismus und der Malerei am unteren Niederrhein leisten wird.